Philipp Melanchthon 2010

Humanist – Reformator – Aufklärer
Philipp Melanchthon zum 450 Todesjahr
Dr. Reinhart Gruhn

I. Die Vorgeschichte

Der Übergang zur Neuzeit wurde durch die Renaissance, den Humanismus (14. / 15. Jahrhundert; „ad fontes“) und das Zeitalter der Reformation geprägt. Schon im 13. Jahrhundert hatte Roger Bacon die Tren­nung der Naturwissenschaft von der Theologie (scholastische Philosophie) begründet. Mit der Wiederent­deckung der griechisch-römischen Philosophen und der antiken Schriftsteller im Original unabhängig von der kirchlich-scholastischen Doktrin entwickelte sich eine neue Erkenntnistheorie (Nikolaus von Kues) und ein neues Bild vom Menschen, welches das Individuum und sein Verhalten (Ethik statt Metaphysik) stärker in den Blick nahm, die Bedeutung der Sprache für das Menschsein erkannte (Philologie) und sich in Kunst, Literatur und Architektur der natürlichen Wirklichkeit zu wandte (Naturalismus).

    Die Renaissance] hat ihre Vorläufer und geistigen Begründer bereits deutlich früher bis ins 13. Jahrhundert zurück. Hervorzuheben sind Roger Bacon (1214–1294), nach dem Wissenschaft streng von Theologie zu trennen ist und empirisch mit Experimenten und Mathematik betrieben werden muss, sowie Marsilius von Padua (1275–1343), der für eine republikanische Gesellschaft bis in die Kirche hinein eintrat. In einer Zeit immer stärker wachsender und von der Kirche immer unabhängiger werdender Städte Italiens waren es vor allem die Dichter und Künstler, die die Freiräume nutzten und eigenständige Sichtweisen auf die Welt entwickelten. (W)

Wirtschaftlich und sozial trat das Bürgertum in den freien Städten („Stadtluft macht frei.“) mit enormer Gestaltungskraft auf den Plan. Nicht zuletzt durch zahlreiche Entdeckungen und technische Erfindungen (Buchdruck; das „Universalgenie“ Leonardo da Vinci) betrachtete man diese Zeit als Umbruch und Auf­bruch zu neuen Ufern. Erasmus von Rotterdam, ein erster wahrhaft europäischer Wissenschaftler (er stu­dierte in Paris an der Sorbonne, lehrte in Cambridge, Venedig, Freiburg im Breisgau und Basel), wurde mit seiner humanistisch-rationalen Philosophie bzw. Ethik und der Begründung der historisch-kritischen Text­forschung zum Wegbereiter der Reformation. Aber auch Namen wie Shakespeare, Dante und Machiavelli stehen für diese Epoche und markieren wachsendes Selbstbewusstsein und Emanzipation von Tradition und Religion.

    Es ist eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs in den Städten und der großen Handelshäuser (Hanse, Fugger, Medici). Es ist das Zeitalter der Entdeckungen. Es ist die Zeit, in der das Bürgertum immer mehr an Gewicht gewann und auch nach Bildung griff. Technische Neuerungen wie die Weiterentwicklung des Kompasses, das Schießpulver, Gewichtsräderuhren (ca. 1300) und Federzuguhren (ca. 1400), ein ausgeprägtes Wachstum im Erzbergbau aufgrund der Münzrechte für die Landesherren aufgrund der goldenen Bulle oder der Buchdruck (ca. 1450) schufen und waren Ergebnis für eine ungeheure Aufbruchstimmung in dieser Zeit. (W)

Die Reformation stellt welt- und religionsgeschichtlich einen epochalen Einschnitt dar. Mit Martin LutherL war ein einzelner Mensch aus „niederem“ Stand gegen die kulturelle und politische Macht von päpstlicher Kirche und weltlichen Fürsten angetreten und erfolgreich geblieben. Bei aller Mittelalterlichkeit seiner Persönlichkeit und seines Denkens war dennoch mit ihm ein Selbstbewusstsein wirksam geworden, das Denken und Welt veränderte, indem es das Verhältnis des Menschen zur Religion neu bestimmte. Luther sieht den Einzelnen unmittelbar vor Gott „allein“, so wie er selbst als Einzelner vor Kaiser und Reich nur sein Gewissen gelten ließ („Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“). Er begründet die „Freiheit eines Christenmenschen“ und konzentriert in seinem dreifachen „solus / sola“ (sola scriptua, sola gratia, sola fide, = solus Christus) die Religion des Menschen „allein auf den Glauben“: „Der Glaube macht Gott und Abgott“; 'Ich kann meinen Glauben nur glauben.' Damit war nicht nur der Anspruch und die Machtstruktur der katholischen Kirche („Papstkirche“) zertrümmert, sondern Glauben, Leben und Denken des Menschen auf die personale Basis des Wissens und Gewissens des Einzelnen gestellt. In der „Zwei-Reiche-Lehre“ legte er den Grund für die neuzeitliche Trennung von Kirche und Staat, von Religion und Politik. Gleichzeitig bleibt Luther mit einem voluntaristischen Gottesbild, seinem anthropologischen Pessimismus und einem antirationalen Affekt („Hure Vernunft“) gegen Erasmus der Tradition Augustins verhaftet.

    Die Reformation war einer der großen Wendepunkte in der Geschichte des Abendlandes. Für die Geschichte des Christentums bedeutete die Reformation den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die über die ab dem 13. Jahrhundert verstärkt formulierte Kritik an der römisch-katholischen Kirche (Averroismus, Jan Hus, John Wyclif, Wilhelm von Ockham) und die Bildung zahlreicher "häretischer" christlicher Glaubensgruppen bis hin zur erneuten Spaltung der Christenheit führten. Die neu entstandenen Konfessionen konnten sich nach langem Ringen schließlich als staatlich gleichberechtigte Kirchen neben der römisch-katholischen etablieren. Die römisch-katholische Kirche verlor nicht nur in weiten Teilen Europas an Einfluss, sondern insbesondere auch ihr bis dahin beinahe unantastbares Deutungsmonopol für das Verständnis der Bibel und der kirchlichen Tradition. So bereitete die Reformation den Weg zum Zeitalter der Aufklärung, in dem das Individuum in seiner persönlichen Freiheit deutlich aufgewertet wurde und in der schließlich selbst atheistische Weltbilder Anerkennung erfuhren. Der Staat löste sich von der Bevormundung durch die Kirche; ... eine Übergangsphase in einer Entwicklung, die in vielen Ländern in die Trennung von Kirche und Staat mündete. (nach W)

II. Vita Melanchthonis

1497 16. Februar: Geburt Philipps als ältester Sohn des kurpfälzischen Rüstmeisters Georg Schwartzerdt in Bretten.

1508 27. Oktober. Tod des Vaters. Philipp Schwartzerdt kommt auf die Lateinschule in Pforzheim. Reuchlin gräzisiert seinen Namen.

1509 14. Oktober. Immatrikuliert in Heidelberg als „Ph. Schwartzerdt de Bretheim" mit 12 J.

1512 Im September immatrikuliert in Tübingen mit 15 J.

1514 Magister artium in Tübingen. Melanchthon lehrt Dialektik und Rhetorik mit 17 J.

1517 31.10. Thesenanschlag Luthers (historisch nicht gesichert)

1518 Erste Druckschriften: „Über die freien Künste". Griechische Grammatik

1518 19. August. Berufung nach Wittenberg, Antrittsvorlesung.

1519 Vorlesungen über Homer und über den Titusbrief. Teilnahme an der Leipziger Disputation

1520 25. November. Melanchthon heiratet Katharina Krapp. Schola privata (bis 1530).

1521 Reichstag zu Worms

1521 Luther auf der Wartburg. Auf Melanchthons Rat beginnt Luther mit der Bibelübersetzung. Melanchthon übernimmt Luthers Vorlesungen. Melanchthon schreibt die „Loci communes".

1522 „Wittenberger Unruhen", Kampf mit Karlstadt und den Zwickauer Propheten. Melanchthon ruft Luther zu Hilfe. Mit Luther Arbeit am September-Testament.

1523 Melanchthons erste Kommentare zum neuen Testament.

1524 Im April Reise nach Bretten. Begegnung mit Landgraf Philipp von Hessen.

1525 Bauernkrieg in Thüringen und Sachsen.

1527 Kursächsische Visitation.

1529 Begleitung des Kurfürsten Johann zum Reichstag nach Speyer. Protestation auf dem 2. Reichstag von Speyer.

1529 Im Oktober Marburger Religionsgespräch. Teilnehmer waren neben Martin Luther und Ulrich („Huldrych“) Zwingli Martin Bucer, Philipp Melanchthon, Justus Jonas der Ältere, Johannes Brenz, Johannes Oekolampad und Stephan Agricola.

1530 Reichstag in Augsburg: Confessio Augustana und Apologie. August-Ausschüsse.

1531 Gründung des Schmalkaldischen Bundes.

1532 Melanchthons Römerbrief-Kommentar.

1534 Ausgleichsversuche in Leipzig.

1535 Neubearbeitung der „Loci theologici". Niederschlagung des Täuferreichs in Münster.

1536 Wittenberger Konkordie.

1537 Schmalkaldische Artikel. Schrift „Über Macht und Primat des Papstes".

1538 Melanchthon in Berlin.

1539 1. Januar. Neues Vergleichsgespräch in Leipzig.

1540 Melanchthons „Confessio Augustana Variata". Treffen von Hagenau. Unterschrift Calvins.

1541 Verhandlungen mit Eck in Worms.

1542 Melanchthon in Bonn und Köln. „Kölner Reformation".

1544 Reformatio Wittenbergica.

1545-47 Erste Session des Konzils von Trient.

1546 18. Februar. Luthers Tod. Gedenkrede auf Luther.

1546-47 Schmalkaldischer Krieg. Beziehungen zum neuen Kurfürsten Moritz von Sachsen.

1548 Augsburger und Leipziger Interim.

1551 Vorbereitung für das Konzil von Trient: Wiederholung des Augsburger Bekenntnisses. Mel. auf Abruf in Nürnberg.

1551 ff. Osiandrischer Streit und weitere theologische Kämpfe.

1552 Moritz' Fürstenkoalition gegen den Kaiser, Sieg bei Innsbruck, Passauer Frieden.

1555 Augsburger Religionsfrieden.

1557 Konvent in Worms.

1557 Tod seiner Frau Katharina geb. Krapp

1558 Frankfurter Rezeß: nochmaliges Vermittlungsdokument Melanchthons mit den Altgläubigen

1559 Letzte Ausgabe der „Loci theologici".

1560 19. April. Melanchthons Tod in Wittenberg.

1575 Konkordienformel, 1580 Konkordienbuch: Einheit der lutherischen Reformation (ohne Reformierte)

Das Konkordienbuch enthält:

die drei so genannten ökumenischen Symbole (Glaubensbekenntnisse)

das Apostolische Glaubensbekenntnis (Apostolicum),

das Nicäno-Konstantinopolitanum (bezeichnet als Nicaenum),

das Athanasianische Glaubensbekenntnis (Athanasianum),

die so genannten lutherischen Partikular-Symbole

die so genannte unveränderte Augsburgische Konfession nach dem angeblichen deutschen Originalexemplar (CA invariata),

die Apologie des Augsburger Bekenntnisses nach der deutschen Übersetzung von Justus Jonas der Ältere,

die Schmalkaldischen Artikel von 1537

mit dem Anhang: Philipp Melanchthon, Von der Gewalt und Obrigkeit des Papstes

den Kleinen Katechismus Martin Luthers mit angehängtem Trau- und Taufbüchlein,

den Großen Katechismus Luthers,

die Konkordienformel.

1648 Westfälischer Friede: Aufnahme der Reformierten in den Augsburger Religionsfrieden.



Als einziger der Reformatoren hat Philipp Melanchthon die gesamte Reformationsgeschichte von Luthers Thesenanschlag 1517 an bis zum Augsburger Religionsfrieden 1555 persönlich erlebt und maßgeblich daran mitgewirkt.

III. Melanchthon der Humanist

Nach dem frühen Tod des Vaters infolge des Landshuter Erbfolgekrieges kam Philipp 1508 11 jährig zu seiner Großmutter Elisabeth Reuter geb. Reuchlin, einer Schwester des berühmten Gräzisten und Humanisten Johannes Reuchlin (1455 – 1522; war u.a. Richter in Stuttgart; lehrte Griechisch und Hebräisch in Ingolstadt und Tübingen) nach Pforzheim und besuchte dort die Lateinschule. Reuchlin besuchte seine Schwester oft und förderte den begabten Jungen in lateinischer und griechischer Sprache und Literatur. Reuchlin schenkte ihm auch seine griechische Grammatik, ein damals noch seltenes, kostbares Gut, mit der Widmung „Diese griechische Grammatik hat zum Geschenk gemacht Johannes Reuchlin aus Pforzheim, Doktor der Rechte, dem Philipp Melanchthon aus Bretten, im Jahr 1509 an den Iden des März.“ Fortan nannte sich Philipp mit seinem gräzisierten Namen Melanchthon, später einfach Melanthon.

Im selben Jahr, noch mit 12 Jahren, wechselte der junge Philipp an die Universität Heidelberg und durfte bei dem engen Freund Reuchlins – auf dessen Empfehlung hin - und berühmten Theologen seiner Zeit, Pallas Spalatin, als sein Famulus wohnen. In ihm fand er nicht nur einen vorbildlichen Lehrer, sondern auch einen geistlichen Mentor, der ihn in eine sehr persönliche Frömmigkeit mit Horengebeten einführte. Melanchthon schloss das Trivium (Grammatik, Dialektik, Rhetorik) 1511 mit dem Baccalaureus ab und wechselte nach dem Tode Spalatins nach Tübingen. Aber seine Begegnungen mit den überzeugten Humanisten Rudolf Agricola und Jakob Wimpfeling brachten den jungen Studenten zu den humanistischen Idealen und Grundüberzeugungen, die er ein Leben lang bewahrte: die besondere Liebe zu den (alten) Sprachen und die Wertschätzung des moralischen Vorbildes der Antike. Sprache und Ethos gehörten nach humanistischer Auffassung zusammen, denn nur sie konnten dem pädagogischen Ziel des Humanismus dienen: die Besserung des Menschengeschlechtes.

In Tübingen studierte Melanchthon das Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik) mittels der via moderna (nominalistisch) und machte Anfang 1514 seinen „magister artium“ - mit kaum 17 Jahren. Er unterrichtete nun Dialektik und Rhetorik, widmete sich aber weiterhin intensiv der lateinischen und griechischen Literatur: Homer, Platon, Demosthenes, Aristoteles und Cicero, Horaz, Vergil, Sallust, Komödien des Terenz. Er selbst verfasste lateinische und griechische Gedichte und Oden. Zusätzlich lernte und las er auf Anregung Reuchlins Hebräisch und beschäftigte sich intensiv mit Geschichte. Er war als Korrektor der Druckerei Anshelm in Tübingen tätig, die Grammatiken des Lateinischen, Griechischen und Hebräischen druckte sowie literarische Werke in diesen Sprachen. 1518 gab er eine eigene griechische Grammatik heraus, die sich durch klare Gliederung, Beispiele und Zitate überzeugte und in 40 (!) Auflagen erschien; sie blieb über 100 Jahre in Gebrauch.

In den Tübinger Jahren lernte er auch die Schriften des großen Erasmus kennen, der damals noch am burgundischen Hof in Löwen arbeitete. Dieser wurde für Melanchthon sowohl als Universalgelehrter als auch als hervorragender Humanist lebenslang ein Vorbild, selbst wenn es später an der Seite Luthers betreffs des „freien Willens“ Uneinigkeit mit Erasmus gab. Beide sind sich nie begegnet, pflegten aber brieflichen Kontakt; Melanchthon würdigte Erasmus zu dessen 20. Todestag 1557 in einer respektvollen Rede.

Schon jetzt setzte sich Melanchthon für eine Reform des Grundstudiums ein, indem er in seiner Schrift De artibus liberalibus (1517) den hohen Wert der Dialektik (= klare Begrifflichkeit) und Arithmetik (= logisches Denken) betonte und zusätzlich als „Musen“ die Geschichte und die Poesie hinzu fügte. In manchen Auseinandersetzungen (z.B. im Streit um Pfefferkorn in Köln: ist der Talmud gotteslästerlich?) war er auf der Seite Reuchlins und der Humanisten literarisch beteiligt und lernte so, in geschliffener Rede zu argumentieren und für seine Sache öffentlich einzutreten.

Lassen wir nun Melanchthon selber zu Wort kommen, zuerst in einem frühen Text aus dem Jahre 1523, seinem „Lobpreis der Sprachkultur“: Sprache ist die Grundlage aller Kultur und Wissenschaft; Sprache lehrt Denken; guter Sprachgebrauch muss geübt werden und ermöglicht es dann, auch die Sache angemessen und klar zu begreifen und darzustellen.

[ Zitat: Encomion eloquentiae, siehe Anhang 1]

Ein zweiter längerer Text enthält einige Abschnitte aus der „Vorrede zu Ciceros Buch Über die Pflicht“ (1534): Sprache und Literatur sind die Grundlage aller Tugend und Ethik; sprachliche Bildung (eruditio) bietet Modelle und Vorbilder rechten Lebens, guter Sitte, und verbessert zusammen mit der Frömmigkeit (pietas) die Rohheit des Menschen

[ Zitat: Praefatio in officia Ciceronis, siehe Anhang 2]

IV. Melanchthon der Reformator

Der sächsische Kurfürst Friedrich III., genannt „der Weise“, suchte für seine 1502 gegründete 'moderne' Universität Wittenberg einen Professor für griechische Sprache und Literatur und wandte sich an Johannes Reuchlin. Der aber empfahl ihm Melanchthon; dieser nahm den Ruf an und traf im August 1518 in Witten­berg ein. Sein lebenslanger Freund und erster Biograph Joachim Camerarius (Narratio de vita Ph. Melanthonis, 1566) beschreibt, wie Melanchthon in Wittenberg eingetroffen und wegen seiner schmächtigen Gestalt und seinem leichten Sprachfehler (er lispelte) belächelt wurde, dann aber mit seiner Antrittsvorlesung („Ad fontes, iuventute!“) über die humanistische Universitätsreform Begeisterung auslöste und alle in seinen Bann schlug. Luther erkannte wohl schnell das Potential des „Graeculus“, des kleinen Griechen, und versuchte ihn für sich und die Theologie zu gewinnen. Melanchthon blieb aber in der philosophischen Fakultät und lehrte Griechisch, Hebräisch, dazu die artes liberales der via moderna, Mathematik, Astronomie und Geschichte. Er übernahm aber als Zugeständnis an Luther regelmäßig eine Vorlesung über ein biblisches Buch, zuerst über den Titusbrief in Vertretung Luthers – das sollte noch öfter vorkommen. Robert Stupperich schreibt über diese Begegnung zwischen Melanchthon und Luther:

Die Feierstunde in der Schloßkirche und der Umgang weniger Tage genügten, um das Bündnis zwischen Luther und dem „kleinen Griechen" für immer zu schließen. In einem Brief an Reuchlin nannte Luther ihn einen wunder­baren Menschen, der durch Umgänglichkeit und Freundlichkeit sich selbst übertreffe. Die guten Manieren des wohlerzogenen, aus einer kultivierten Bürgerlichkeit kommenden jungen Gelehrten mußten im dörflichen Witten­berg auffallen, noch mehr seine offene Art und sein lauterer Charakter. … Luther bewunderte den hochbegabten jungen Freund - diese Bewunderung ihm gegenüber bewahrte er sein Leben lang. War es Voreingenommenheit, die ihn zu dieser Überschätzung führte? Vieles, was ihm fehlte, gewandte Sprache, Kunst des Formulierens, Schärfe des Urteils, nahm ihn gefangen, doch entscheidend war die persönliche Zuwendung und Liebe. Melanchthon hat nicht immer alle seine Hoffnungen erfüllt, gelegentlich hat er ihn auch enttäuscht. Luther hielt dennoch immer an ihm fest.“ (S. 21)

In den fast 27 Jahren, die Luther und Melanchthon nebeneinanderstanden, blieb ihr Verhältnis nicht immer das gleiche. Im Laufe der Jahre entstanden immer neue Probleme, das Freundschaftsverhältnis wurde von Zeit zu Zeit schweren Belastungen ausgesetzt. Der eigene Weg eines jeden von ihnen wirkte auf den anderen ein und nötigte zu Abgrenzungen. Die beiden Reformatoren bildeten im Grunde Gegensätze, wie sie größer nicht gedacht werden können. Charakterlich waren sie verschieden veranlagt. Melanchthon ein Mensch des Verstandes, der Luthers Gemütstiefe nicht besaß. Hinzu kamen Unterschiede im Alter und in der Lebenserfahrung, vor allem aber in der inneren Entwicklung. Luthers Weg ist uns besser bekannt als der des Magisters Philippus. Dieser spricht sich nie so offen aus wie Luther. Wir besitzen von ihm kaum eine Selbstäußerung, immer nur kurze Hinweise. Wenn er in seinem Testament von 1539 sagt, daß Luther sein geistlicher Vater sei, der ihn habe das Evangelium verstehen lassen, so ist das sehr viel. Die Wende in seinem Leben war keine erlebnismäßige, sondern eine der Einsicht. Luther dagegen hat nichts seinem Fleiß und seinen Bemühungen zugeschrieben, sondern bekannt, daß Gott in sein Leben eingegriffen und ihn wie einen geblendeten Gaul geführt habe. Sein Gottesverständnis ergriff andere. Es blieb nie die Erkenntnis des einzelnen, sondern ergriff eine ganze Generation, Bekannte und Unbekannte, die sich durch sein Erleben bestimmen ließen. (S. 27)

Martin Jung bewertet ein wenig anders:

Als Gräzist war Melanchthon unübertroffen, auf dem Gebiet der Theologie stand er aber selbst erst am Anfang. Luther besuchte Melanchthons Griechischunterricht, und Melanchthon studierte bei Luther Theologie. „Ich habe von ihm das Evangelium gelernt", hat Melanchthon später (1539) dankbar bekannt. … Doch das Verhältnis zwischen den beiden Männern sollte nicht immer so entspannt bleiben. In vielen, auch theologischen Fragen gab es später Streit. Luther war, wie alle großen Männer, nicht von einfacher Natur. Er ließ aus Prinzip nur seine eigene Meinung gelten. Melanchthon hat darunter nachhaltig gelitten. Als Luther gestorben war, sprach er von einer „fast entehrenden Knechtschaft". Um der Sache willen hat Melanchthon aber durchgehalten. Die Sache war die Reformation, an der Melanchthon von 1518 an aktiv beteiligt war. An der Seite des dreizehn Jahre älteren Luther wurde er zu einer Führungsgestalt der Reformation und prägte die evangelischen Kirchen nachhaltig, nicht zuletzt weil er vierzehn Jahre länger als Luther lebte. Melanchthon starb erst im Jahre 1560 und hat somit anders als Luther, Zwingli und Calvin die ganze Reformationsgeschichte miterlebt und mitgestaltet.


    Gewiss waren beide Reformatoren grundverschiedene Charaktere und Temperamente: Luther eher derb, kühn, emotional bis zum Jähzorn, streit- und kampfeslustig; Melanchthon ruhig und „irenisch“ (Jung), feinsinnig, ausgeglichen, analytisch, scharfsinnig, auf Ausgleich und Frieden hin ausgerichtet. Luther sah selber die Unterschiede, schätzte aber an Melanchthon sein umfassendes Wissen sowie seine Festigkeit und Treue in der Sache – und an Eigenschaften des Wesens offenbar genau das, was ihm selber abging.

    Luther hatte diese Verschiedenheit in seiner Vorrede zur deutschen Übersetzung von Melanchthons Kolosserbrief-Kommentar (1529) in der bekannten Weise ausgedrückt: „Ich bin dazu geboren, daß ich mit Rotten und Teuffeln muß kriegen und zu Felde liegen, darum meine Bücher viel stürmischer und kriegerisch sind. Ich muß die Klötze und Stämme ausrotten, Dornen und Hecken weghauen und bin der grobe Waldrechter, der die Bahn brechen und zurichten muß. Aber Meister Philippus fahret säuberlich und stille daher, bauet und pflanzet, säet und begeußt mit Lust, nachdem Gott ihm hat gegeben seine Gaben reichlich". (Stupperich S. 108)

Anhand der Lebensgeschichte Melanchthons könnte man die gesamte Reformationsgeschichte nacher­zählen, und die meisten Biographien verfahren auch so. Da man dies alles sehr gut nachlesen kann (auch der Wikipedia-Artikel über Melanchthon ist „lesenswert“), möchte ich hier nur ein paar Dinge herausheben, welche die Person Melanchthons deutlich hervortreten lassen.

An den Auseinandersetzungen, die die Reformationsgeschichte ausmachten, war Melanchthon zum ersten Mal bei der Leipziger Disputation im Juni / Juli 1519 beteiligt, die durch 12 Thesen des Ingolstädter Pro­fessors Johannes Eck über den Ablass veranlasst war. Eck warf Luther Neuerungen und Abweichungen vom altüberlieferten Glauben vor. Die mehr als 4 Wochen andauernde Disputation fand im Beisein der jeweiligen Berater (und in Begleitung von 200 bewaffneten Wittenberger Studenten!) statt; es wird überliefert, wie Melanchthon immer wieder Luther Informationen zuflüsterte oder Zettel zusteckte; dagegen hätten Ecks Berater oft geschlafen (siehe die Darstellung auf der Webseite der Uni Leipzig.) Die Disputation wird genauestens protokolliert. Eck versucht, Luther mit dessen Kritik der Konzilien in die Nähe der Hussiten zu drängen und ihn damit als Ketzer zu brandmarken; Luther ließ sich leicht auf dieses Glatteis führen, indem er äußerte, dass das Konzil zu Konstanz bei seiner Verurteilung des Johannes Hus geirrt habe. Eck und seine Anhänger triumphierten, fühlten sie sich doch zu Recht als Sieger der Disputation. Aber nun geschah etwas, das man als ersten Fall einer medial begründeten Aneignung der Deutungshoheit seitens der Reformation über das Ergebnis von Leipzig nennen könnte. In einem nach Ende des Religionsgesprächs verfassten Brief an seinen Freund Oekolampad (Augsburg, Basel), den Melanchthon sogleich auch veröffentlichte, schilderte er aus seiner Sicht den Verlauf der Disputation und stellte Eck als einen „Vertreter der überholten Scholastik dar, der sinnlose Zitate häufte, während Luther in überzeugender Weise für die Wahrheit focht“ (Greschat S. 33). Das war zwar nicht unbedingt fair, aber äußerst wirksam in der öffentlichen Meinung. Eck konnte darauf nur als „schlechter Verlierer“ mit einer wütenden Flugschrift reagieren, auf die wiederum Melan­chthon mit einer „Verteidigung gegen Johannes Eck“ antwortete. Damit hatte er sich offen zur Sache Luthers bekannt und wurde fortan als Vertreter des „neuen Glaubens“, also der Reformation wahrgenommen. Seine Vorlesung über den Römerbrief 1519 zeigte, wie sehr er von Luthers biblischen Erkenntnissen beeindruckt war, selbst wenn er in der Methode der Auslegung Erasmus verpflichtet blieb. Das neue Verständnis des Gesetzes und der Wirkung der freien Gnade Gottes hatten sich ihm erschlossen, so dass Melanchthon nun auch zum wichtigsten Theologen der Reformation wurde.

1521 legte Philipp Melanchthon die erste Ausgabe seiner „Loci communes rerum theologicarum“ vor, kurz „Loci“. Es war dies das erste systematische Lehrbuch der reformatorischen Theologie. Melanchthon wich von der Darstellung scholastischer Dogmatiken ab („summae“) und beschrieb in seelsorgerlicher oder besser pädagogischer Absicht die Hauptpunkte der reformatorischen Entdeckung: der sündige Mensch unter dem Gesetz, die Rechtfertigung aus reiner Gnade, ihre Annahme im Glauben, die Kraft der Sakramente (zwei!) und das praktische Leben des Christen. Seine Schrift enthielt sich bewusst aller theologischen Spekulation („Die Geheimnisse der Gottheit sollten wir lieber anbeten als erforschen.“ zit. nach Jung, S. 24) und unterstrich die konkrete Heilsbedeutung des Evangeliums: „Christus erkennen heißt, seine Wohltaten erkennen und nicht, wie jene Scholastiker lehren, seine beiden Naturen und die Art der Inkarnation betrachten.“ (zit. n. Greschat, S. 39). Nicht zuletzt dieser Satz hat Theologiegeschichte gemacht bis ins vorige Jahrhundert hinein. Melanchthons Loci sowieso, sie fanden begeisterte Aufnahme und verbreiteten sich in vielfachen Drucken in Windeseile. Schon im folgenden Jahr 1522 arbeitete Melanchthon an der 2. Auflage der Loci, welche die natürliche Erkenntnis Gottes und die Lehre von der Rechtfertigung genauer fassten. Melanchthon arbeitete letztlich sein ganzes Leben lang an der Präzisierung, Verbesserung, Aus­weitung seiner Loci, sie erschienen jeweils mehr oder weniger stark verändert 1535, 1543 und 1559, in die deutsche Sprache übertragen von Justus Jonas erschienen sie erstmals 1525. Im Ergebnis wurden die Loci, wie es dann auch die Absicht von Melanchthon war, zu einem Kompendium der gesamten reformatorischen Theologie; sie sollten die ganze Lehre der Kirche enthalten.

Treffender urteilte Luther, als er später in einem Tischgespräch die Bedeutung von Melanchthons Werk hervor­hob: „Wer heute Theologe werden will, hat zwei große Vorteile: Zum ersten hat er die Bibel, die er nun ohne große Hindernisse lesen kann. Daneben hat er die Loci von Philippus. Er lese sie fleißig und gründlich, so dass er sie ganz im Kopf hat. Wenn er die zwei hat, dann ist er ein Theologe, dem weder der Teufel noch ein Ketzer etwas abbrechen kann." (zit. n. Greschat S. 42)

Als Luther nach dem Wormser Reichstag 1521, der ihm die Reichsacht eingebracht hatte, zu seinem Schutz durch seinen Landgraf Friedrich auf die Wartburg gebracht wurde, bestellte er Melanchthon zu seinem Vertreter in Wittenberg:

Darum tritt Du als Diener des Wortes herzu und befestige die Mauern und Türme Jerusalems, bis sie auch über Dich herfallen. Deine Berufung und Begabung kennst Du. Ich bete für Dich besonders [...]. Tue Du das Gleiche. So wollen wir jene Last füreinander tragen. Wir allein stehen jetzt in der Schlacht. Nach Dir werden sie trachten, wie sie es an mir getan haben." (Greschat S. 43)

Melanchthon seinerseits ermutigte Luther, die Zeit auf der Wartburg zu einer Übersetzung des neuen Testaments direkt aus dem Griechischen ins allgemein verständliche Deutsche, nunmehr das Hochdeutsche, zu nutzen; er stand ihm dabei schriftlich mit Rat und Tat, sprich Übersetzungshilfe und Korrektur zur Seite. Das wird später bei der Übersetzung des Alten Testamentes aus dem Hebräischen noch verstärkt so sein; es ist eine Gemeinschaftsarbeit. „Die „Luther-Bibel“ ist eigentlich, was wenig bekannt und wenig gewürdigt wird, eine Luther-Melanchthon-Bibel.“ (Jung, S. 21)

Bei einem weiteren Ereignis tritt Melanchthon in einer Weise in Erscheinung, die ihn wie keinen zweiten zu einer herausragenden und andauernd wirksamen Persönlichkeit der Reformationsgeschichte werden lässt. Nach dem Hin und Her verschiedener Disputationen (zu denken ist vor allem an das Marburger Religions­gespräch 1529, die einzige persönliche Begegnung mit Huldrych Zwingli; dank Melanchthon kam es beinahe zur Einigung in der Abendmahlsfrage), Streitschriften und Reichstage (so 1529 in Speyer, als die evangelischen Stände ihre „Protestation“ vorlegten, die ihnen den Namen Protestanten einbrachte) kam es 1529 zur Einberufung des Reichstages in Augsburg. Die politischen Entwicklung an den Grenzen des Reiches (die Türken vor Wien) machten Kaiser Karl V. kompromissbereit, da er die breite (finanzielle) Unterstützung innerhalb des Reiches zur Abwehr der Türkengefahr brauchte. Deswegen sollte auch die Religionsfrage einer Lösung näher gebracht werden; der Kaiser forderte die Stände auf, ihre „Meinung und Opinion“ offen und klar darzulegen. Der sächsische Kurfürst beauftragte seine Theologen, die notwendigen Artikel aufzustellen. Melanchthon unternahm es dann, sowohl die Kritikpunkte an der bisherigen kirchlichen Lehre als auch eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte des erneuerten Glaubens präzise darzustellen. Er konnte sich dabei zwar auf vorangegangene schriftliche Stellungnahmen stützen, dennoch ist diese Darstellung des Glaubens der reformatorischen Stände sein Werk; dass es wichtig war, wird ihm schon klar gewesen sein; dass es sein wichtigstes und geschichtlich wirkmächtigstes Werk wurde, konnte er kaum ahnen.

Melanchthon verfasste also das Augsburger Bekenntnis, die Confessio Augustana, kurz CA genannt. Diese Schrift wurde dem Kurfürsten sowie den reformatorischen Reichsständen zugesandt; alle stimmten zu. Auch Martin Luther hatte von der Coburg aus zugestimmt; als Geächteter durfte er das Gebiet Kursachsens nicht verlassen, schon auf dem Reichstag in Speyer hatte ihn Melanchthon vertreten. Das sollte auch in Augsburg wieder so sein, wenn auch die Bedeutung dieses Reichstages und insbesondere seines Bekennt­nisses alles Bisherige übertraf. Melanchthon wollte jetzt die gesamte kirchliche Lehre umreißen, um den sog. „neuen Glauben“ als die wahre „katholische“ Lehre zu erweisen. Er begann mit einem Artikel über die göttliche Trinität, es folgten Artikel über die Rechtfertigung und über die Kirche und ihre Sakramente, insges 21 Artikel. 7 weitere Artikel befassten sich mit den Missständen in der römischen Kirche.

[Luther] „wollte bewußt nichts daran ändern, da sein Stil ein anderer sei und er sich nicht „so sanft und mild" ausdrücken könne. Mit diesen Worten: „Denn ich so sanft und leise nicht treten kann", die häufig aus dem Zusammenhang gerissen und mißdeutet wurden, ist viel Verwirrung angerichtet worden. Mit dem Wort „leise" war die Art der Darstellung, nicht aber der Inhalt gemeint. Luther gefiel diese Arbeit vielmehr sehr gut. Es fehlte darin nichts an entscheidenden Inhalten, auch nicht an der Sakramentslehre, wo man einen Mangel am ehesten hätte erwarten können. Luthers Stellungnahme schloß mit den Worten: „Christus, unser Herr, helfe, daß sie (die Augs­burger Konfession) viel und große Früchte schaffe". (Stupperich S. 78)

Der Reichstag begann im Juni 1530 in Anwesenheit des Kaisers. Die CA wurde öffentlich vor dem Kaiser verlesen; Robert Stupperich kommentiert:

Die Verlesung des deutschen Textes des Augsburger Bekenntnisses und die Übergabe des lateinischen an den Kaiser fand am 25. Juni 1530 in der Bischöflichen Pfalz statt. Verlesen wurde sie vom kursächsischen Vizekanzler Dr. Christian Bayer, während der alte Kanzler Dr. Gregor Brück mit dem lateinischen Text neben ihm stand. Der Saal faßte nur hundert Menschen, während draußen an die 3000 standen, die bei offenen Fenstern der zweistündigen Verlesung folgten. Der Kaiser tat gelangweilt oder schlief wirklich, da er der deutschen Sprache kaum mächtig war. Die Nachricht von diesem Ereignis lief in kurzer Zeit durch alle deutschen Lande. Luther drückte seine Freude darüber aus, daß Christus auf diesem Reichstag durch das schönste Bekenntnis verherrlicht worden sei; er war dankbar für dieses Glaubenszeugnis. Kurfürst Johann der Beständige sah das Augsburger Bekenntnis als sein persönliches Bekenntnis an und gestand es nur wenigen evangelischen Fürsten zu, die Schrift mit zu unterschreiben. Von den Reichsstädten waren es sogar nur zwei. (Stupperich S. 78)

Damit war der Fall der Religion aber keineswegs erledigt, im Gegenteil, nun fing die Auseinandersetzung auf dem Reichstag erst richtig an. Melanchthon war an allen Verhandlungen sowohl öffentlich als auch hinter den Kulissen („August-Ausschüsse“) aktiv und engagiert beteiligt. Er bemühte sich nach Kräften um Einigung und Ausgleich; Melanchthon suchte eine fortgesetzte Spaltung der Kirche und des Reiches zu verhindern, aber die Interessenlage hatte sich schon weiter entwickelt. Der alte Gegner Eck hatte im Namen des Kaisers 404 Artikel gegen Luther verfasst bzw. Zitate gesammelt, die Luthers Trennung von der Kirche belegen sollten, damit standen die Zeichen auf Sturm.

Kaiser Karl hatte eine Widerlegung der CA ausfertigen lassen, die „Confutatio“, auf die wieder die Refor­matoren in Person Melanchthons mit einer ausführlich Verteidigung, der „Apologie“ antworteten; sie wurde bald als ausführlicher und authentischer Kommentar zur CA angesehen. Sie konnte erst nach dem Ende des Reichstages gedruckt werden und galt dann sehr bald zusammen mit der CA als die Bekenntnisschrift der lutherischen Reformation. [Nur nebenbei: Die oberdeutschen Städte hatten ein eigenes Bekenntnis verfasst, die „Tetrapolitana“ (Straßburg, Konstanz, Lindau, Memmingen), das der Reichstag aber nicht offiziell zur Kenntnis nahm; die Zwinglianer hatten weder dieser noch der CA zustimmen können. Erst 1540 hatte Calvin eine veränderte Fassung der CA, die sog. „variata“, in Hagenau unterschreiben können.] - Der Reichs­tagsverlauf war für Melanchthon deprimierend; Luther versuchte ihn immer wieder durch Briefe von Coburg aus zu trösten und aufzurichten. Letztlich fiel der Reichstagsabschied hart und unversöhnlich aus: Der Kaiser sah die CA durch die Confutatio widerlegt. Die Protestanten sollten Klöster und Stifte zurück geben, zur katholischen Messfeier zurückkehren und sich bis zum April des folgenden Jahres 1531 in den Schoß der Kirche zurück begeben. Melanchthon war am Boden zerstört.

In Wirklichkeit hatte Melanchthon mit seiner Confessio Augustana etwas Unglaubliches, Bleibendes geleistet: Sie galt und gilt noch heute als wesentliche Bekenntnisschrift der Reformation; sie ist im Evange­lischen Gesangbuch auch heute abgedruckt. Melanchthon hatte sie zwar immer wieder geändert und erwei­tert, wie er es mit seinen privaten Veröffentlichungen (den Loci!) auch stets getan hatte. Dies führte in der Folgezeit immer wieder zu Missverständnissen, bis man sich innerprotestantisch auf den ursprünglichen Text, die CA „invariata“, einigte. Melanchthon hatte nämlich übersehen, dass „seine“ CA längst ein seinen Händen entwachsen war: Durch die öffentliche Verlesung auf dem Reichstag vor Kaiser und Reich war sie als erstes reformatorisches Schriftstück zu einem offiziellen Dokument des Reichstages, gewissermaßen zu einem Teil der Reichsverfassung geworden. Sie wurde mehr als 100 Jahre später in die Schlussbestim­mungen des Westfälischen Friedens von 1648 aufgenommen, - dann erst unter Einschluss der Reformierten (der Kirchen in der Nachfolge von Huldrych Zwingli und Johannes Calvin).

Melanchthon hat auch weiterhin das Augsburger Bekenntnis als Inbegriff der christlichen Lehre angesehen. Als er die Gelegenheit ergriff, mit dem Patriarchen von Konstantinopel über die Verständigung im Glauben zu verhandeln, verwendete er eine freie griechische Übersetzung des Augsburger Bekenntnisses, die um der Klarheit willen den Wortlaut paraphrasiert und beispielsweise den Begriff „Rechtfertigung" durch den Begriff „Erlösung" ersetzt. (Stupperich S. 83f.)

Die folgenden Jahre brachten immer neue Gespräche, Abmachungen (Bündnis von Schmalkalden), Bekenntnisse, an denen Melanchthon beteiligt war. Der Schmalkaldische Krieg 1546/7 und danach das Leipziger Interim stellten insbesondere nach dem Tode Luthers 1546 Melanchthons Festigkeit wie Kompromissbereitschaft auf eine harte Probe. Sein Zurückweichen vor der beginnenden Gegenreformation brachte ihn im lutherischen Lager in Verruf und brachte ihn fast um seine Glaubwürdigkeit (Streit um die sog. „Adiaphora“, die Mitteldinge wie Riten und Bräuche; Zusammenarbeit mit dem albertinischen frisch gebackenen Kurfürst Moritz, dem „Judas aus Meißen“). Dennoch ist die Geschichte der Reformation nicht ohne das Wirken von Philipp Melanchthon zu beschreiben. An maßgeblichen Punkten und in geschichtsträchtigen Momenten hat er gestaltend mitgewirkt und wurde darum neben Luther zum bedeutendsten Reformator der lutherischen Kirchen. Seine Visitationsordnungen bzw. der „Unterricht der Visitatoren“ trugen zum Aufbau des neuen „landesherrlichen Kirchenregiments“ maßgeblich bei und wurde ein Modell für viele andere Landesteile. Zu Recht befindet sich sein Grab gegenüber dem Martin Luthers, steht heute sein Denkmal in gleicher Größe wie das Martin Luthers vor der Schlosskirche in Wittenberg.



V. Melanchthon der „Aufklärer“

Melanchthon war ein begeisterter Lehrer. Pädagogik als eigenständiges Fachgebiet oder gar Kinder- und Schulpsychologie gab es noch nicht, und auch keine Kultusministerkonferenz und Schulministerien. Es gab nur die Klosterschulen und wenige städtische Lateinschulen, die der Förderung und Ausbildung des künftigen Klerus und der Beamten dienten. Städtische Elementarschulen waren wenn überhaupt vorhanden, dann nur einer kleinen bürgerlichen Schicht vorbehalten, deren Kinder dort gegen Schulgeld Lesen und Schreiben und Gebete auswendig lernten. Melanchthon selber war in Pforzheim wegen der schlechten Qualität der dortigen Schule auf Veranlassung seines Großonkels Reuchlin hin von einem Privatlehrer unter­richtet worden. Der Humanismus, dem sich Melanchthon lebenslang verpflichtet fühlte, hatte ihm die Welt mit neuen Augen zu sehen gelehrt.

Melanchthon war kein „Aufklärer“ im modernen Sinne bzw. in dem Sinne, wie wir von dem „Zeitalter der Aufklärung“ im 17. und 18. Jahrhundert sprechen; in vielen Dingen war er wie seine Zeitgenossen noch ein Kind des Mittelalters, wenn er zum Beispiel die Astrologie hoch schätzte, wie er es besonders von seinem Vater gelernt hatte. Aber er teilte doch mit den Humanisten seiner Zeit (Reuchlin, Agricola, vor allem Erasmus) das Bewusstsein, am Anfang einer neuen Zeit zu leben, in der die alten Bindungen und Schemata des Mittelalters mit seiner festgefügten Ständen und einer engstirnigen Scholastik sich allmählich auflösten.

Zweierlei war es, was die Humanisten verkündeten, was ihr spezielles Anliegen war: zum einen der Ruf „ad fontes“, also zurück zu den Ursprüngen der „klassischen“ Griechen und Lateiner - erst durch die huma­nistische Wiederentdeckung der Sprachen, Gedanken und Literatur des Altertums wurde dieses „klassisch“; zum anderen „Bildung“ (eruditio), was für sie zu allermeist Sprachbildung, Denkschulung, Literaturlektüre und praktische Übung in den literarischen Künsten (Dichtung, Lieder, Dramen) bedeutete. Die natürliche Vernunft gewann Bedeutung, und mit ihr die (Willens-) Freiheit des Menschen. Bildung diente bei den Humanisten aber einem ganz ausdrücklichen Zweck: nämlich den Menschen auf den Weg von der Rohheit und Grobheit weg zu mehr Sittlichkeit, Frömmigkeit und „rechtem Leben“ zu führen. Alles was der Hebung des Niveaus vor allem der Jugend dienlich war, sollte in den neuen Schulen und Hochschulen vermittelt werden. Dabei war es den Humanisten und insbesondere Melanchthon ganz klar, dass es sich bei dem zu erlangenden Wissen zwar um ein mühevolles Unternehmen handelte, das aber eben keineswegs einen nur theoretischen, sondern in erster Linie einen ganz konkreten lebenspraktischen Zweck hatte, nämlich einen besseren, gesitteten und gemeinschaftsfähigen Menschen zu bilden.

Dieser pädagogische Impetus erfüllte nun Melanchthon voll und ganz. Er sah sich berufen, den jungen Menschen den Weg zu zeigen aus dem Dunkel und der Unzivilisiertheit der mittelalterlichen Welt, die so veräußerlicht war (saufen, raufen, huren), in das helle Licht von Bildung und Frömmigkeit, beides bedeutete für ihn eine neue Prägung des inneren Menschen. Hier finden wir also bis in die Wortwahl hinein etwas von dem Antrieb wieder, der sich dann später in der „Aufklärung“ breiten Raum verschaffte: von der Dunkelheit zum Licht. Das Wissen, das er so hoch pries und vermittelte, war etwas, was von innen heraus einen neuen Menschen schaffen sollte, der die sophistischen Spielereien und Spiegelfechtereien der Scholastik in dem herunter gekommenen Kloster- und Kirchenwesen hinter sich lassen sollte.

Für Melanchthon gehörten darum sein Einsatz für Schulreformen, Gründung und Gestaltung neuer Hoch­schulen und die Reform der bestehenden Universitäten unmittelbar zusammen mit der Reform der Kirche „an Haupt und Gliedern“. Sein reformatorisches Anliegen war zwar durchaus ein theologisch-kirchliches, aber als solches eingebettet in die notwendige Veränderung und Verbesserung von Sitte, Kultur und Leben insgesamt. Die „Wahrheitsfrage der Theologie blieb für Melanchthon eingebettet in den Horizont von Pädagogik, Wissen, Bildung und Kultur.“ (Jung, S. 49) Wie kein zweiter hat Melanchthon für dieses Ideal gelebt, wie kein anderer der Reformatoren war er von einer Leidenschaft für Bildung und Schule ergriffen, die für ihn nur die andere Seite der Medaille der persönlich gelebten Frömmigkeit war. Schulen waren darum für ihn Heiligtümer, die er direkt mit der Kirche gleichsetzen konnte. Mit Melanchthon gewann etwas anfängliche Gestalt, was dann in der Folgezeit in der Verbindung von Bildung, Kultur und Protestantismus die europäische und insbesondere deutsche Geschichte prägte bis hin zudem, was man dann Mitte des vorigen Jahrhunderts eher abfällig „Kulturprotestantismus“ nannte.

Für Melanchthon gehörten darum Schule und Leben zusammen. Es ging ihm also nicht um abstrakte Wissensvermittlung, sondern um „ganzheitliches“ Leben und Lernen. So waren seine Vorschläge für Schul­ordnungen geprägt einmal vom neu geordneten Fächerkanon (neben den alten Sprachen und Literaturen zusätzlich mit Mathematik, Geografie und Geschichte) und der Einrichtung von „Haufen“ (= Klassen), zum andern von der Lebensweise, die in den Schulen gepflegt werden sollten. Dazu gab er selbst das beste Beispiel in seiner eigenen schola privata in Wittenberg.

Aus fachlichem Interesse, nicht etwa nur als zusätzliche Einnahmequelle, gründete der junge Professor nun in seinem Hause eine Privatschule. Es war ihm ein Anliegen, mit der Jugend zusammenzusein und sie in erforder­lichem Maße zu fördern. Seine Schola privata erlangte bald hohen Ruf. Aufgenommen wurden nicht nur „Überflieger", sondern bisweilen gerade solche Schüler, deren Vorkenntnisse nicht ausreichten, denen er aber zutraute, daß sie ihre Lücken ausfüllen könnten. Viele seiner Schüler bezeugten später, daß sie dem Praeceptor alles verdankten.

In dieser Schule herrschten vorbildliche Zucht und Ordnung. Jeder Schüler bemühte sich, dem beliebten Praeceptor ehrerbietig zu begegnen und seine Erwartungen voll zu befriedigen. Die Erziehung war weithin auch eine Selbsterziehung. Mitglied der Schola privata zu sein, galt bald als Auszeichnung. Die Eltern angehender Studenten aus dem In- und Auslande bemühten sich rechtzeitig darum, ihre Söhne hier unterzubringen. Melanchthon stellte nicht geringe Anforderungen. Manches war aus der alten Lateinschule übernommen, z. B. die lateinische Umgangssprache, anderes wieder stammte aus der modernen humanistischen Schule: ein Haus­theater, für das Melanchthon eigene Stücke mit beachtlichen Prologen schrieb. Dabei zeigte Melanchthon viel Sinn für Humor und Scherz. An der nötigen Freiheit fehlte es hier nicht. (Stupperich S. 40)

Mit den Humanisten teilte Melanchthon die Wertschätzung der ratio, des geordneten und präzisen Denkens, dem diente ja vor allem auch die Sprachschulung. Er lehnte darum sowohl die rein formalen Spitz­findigkeiten der scholastischen Methoden ebenso ab wie jegliche „Schwärmerei“, also die gefühlsbetonte Weise neuer angeblich geistlicher Erkenntnisse. Dies hatte dann entsprechende Auswirkungen in seinem Kampf gegen die religiösen „Schwärmer“ und „(Wieder-) Täufer“. Da war und blieb er ein 'Geistesmensch', der von der Disziplin des Denkens auch die bessere Gestalt des Lebens erwartete und die Überwindung und Vermeidung aller „Barbarei“ des Unwissens.

Noch ein anderer Aspekt verdient Beachtung. Ein Mensch, der ohne Bildung lebe und agiere, bemerkte Melanchthon in dieser Rede, „renne wie ein Schwein in die Rosen". In diesem Vergleich drückte sich die Verachtung des Gelehrten für Banausentum und Barbarei aus. Doch das Bild spiegelt zugleich ein Stück des ästhetischen Empfindens Melanchthons. Gewiss galt, dass das Nützliche auch das Schöne war. Aber ein vollkommener Vers, eine gelungene Formulierung, eine elegante Rede und insgesamt ein glänzender Stil waren darüber hinaus auch schön. Nimmt man Melanchthons Hochschätzung der Musik hinzu und bedenkt seine Zusammenarbeit mit Cranach, sein persönliches Verhältnis zu Albrecht Dürer in Nürnberg und schließlich seine Kenntnis von Werken Grünewalds, wird in und hinter seiner Betonung des Nutzens der Sprachen, Bildung und Kultur etwas von Melanchthons ästhetischen Talenten und Neigungen erkennbar. Dieses Moment gehörte jedenfalls auch zu seiner Persönlichkeit. … Die Bibel und die Literatur der klassischen Antike bildeten ein Ganzes. Also ging es nicht an, die Bemühungen um die Sprachen, besseren Unterricht und mehr Bildung als einen von seinem theologischen Denken, Arbeiten und Handeln losgelösten Bereich zu betrachten. Auf diese Weise wollte er der Gefahr wehren, dass Unbildung und Schwärmertum, Radikalismus sowie Barbarei in der Kirche um sich griffen und sie zerstörten.(Greschat, S. 76f.)

Melanchthon wirkte an verschiedenen Schulgründungen mit, so zu allererst in Eisleben und Magdeburg, aber auch durch seinen Rat in Goslar. In Nürnberg kam es zu einem ganz besonderen Modellprojekt, der Gründung einer humanistischen „Oberschule“, die bis zum Abschluss des Grundstudiums (artes liberales) führen sollte. Melanchthon erarbeitete das Konzept und gewann seinen Freund Joachim Camerarius als ersten Rektor. Wenn man so will war es ein Konzept, das dem amerikanischen College ähnelt: Höhere Schule und Grundstudium in einer Schulform zusammengefasst. Da diesem Urbild einer humanistischen Bürgerschule das Recht fehlte, den akademischen Grad eines Baccalaureus zu verleihen, wurde dieses Modell kein großer Erfolg. Aber als Lateinschule hat die Nürnberger „Oberschule“ durchaus Geschichte gemacht. Später wurde in dem dann unter preußischem Einfluss gebildeten humanistischen Gymnasium Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum Rektor berufen. Seit 1933 wurde es in Melanchthon – Gymnasium unbenannt und feierte 1976 sein 450 jähriges Bestehen. Der Schauspieler Tilo Prückner ist dort zur Schule gegangen...!

Neben den Schulen widmete sich Melanchthon der Reform der Universitäten. Bereits 1523 erneuerte Melanchthon die Statuten der Universität Wittenberg; die alten Sprachen sowie Mathematik, Geographie und Geschichte wurden in den Fächerkanon aufgenommen und im Grundstudium verpflichtend. Dieses neue Hochschulmodell machte seinerseits „Schule“ und wurde abgewandelt von anderen Universitäten in ganz Europa übernommen. Melanchthon selbst wirkte teilweise durch persönliche Gegenwart, ansonsten mittels Briefen und Schriften an den Reformen bzw. Neugründungen der Universitäten Marburg, Tübingen, Leipzig, Königsberg und schließlich auch seiner „Heimatuniversität“ Heidelberg mit. Sein Wissen und seine Lehr­bücher strahlten nach ganz Europa aus. Er wurde von Universitäten aus Frankreich, England, Norwegen, Dänemark und Böhmen um Rat gefragt; sein erhaltener Briefwechsel umfasst mehr als 1000 Briefe. So wurde ihm schon früh der Ehrentitel „Praeceptor Germaniae“ verliehen, Lehrer Deutschlands insbesondere des protestantischen Deutschlands. Jung schreibt in seiner Würdigung: „Er [Melanchthon] wurde zu Recht in neuerer Zeit auch als Praeceptor Scandinaviae, Praeceptor Angliae, ja als Praeceptor Europae bezeichnet.“

Melanchthons Wirkungen reichen fort bis in unsere Gegenwart. In der Leuenberger Konkordie von 1973, der Verständigung über das Abendmahl zwischen Lutheranern und Reformierten, kommt ein Anliegen und Denken des Melanchthon endlich zum Erfolg. Der Katholik Jung merkt übrigens im Blick auf die protes­tantische Gegenwart zu Recht kritisch an: „Allerdings gibt es auch Bereiche, in denen der Reformator heutigen Entwicklungen energisch widersprochen hätte. Dazu gehört die bei evangelischen Christen zunehmend zu findende Missachtung der Bildung, der sprachlichen, aber auch der theologischen Bildung, sowie der Verzicht auf das Stellen der Wahrheitsfrage.“ (Jung S. 148)

Melanchthon selber hat in seinem letzten Lebensjahrzehnt vor und nach Augsburg (besonders nach dem Leipziger Interim 1548 wegen seines Verhaltens gegenüber Moritz von Sachsen und nach Augsburg in seinen Auseinandersetzungen mit den „Gnesiolutheranern“ Osiander und noch heftiger Flacius) viel kämpfen müssen, nicht immer geschickt, nicht immer glücklich. Verzweifeln ließ ihn immer wieder, wie wenig die „Rohheit der Menschen“ und die „Streitsucht der Theologen“ sich bessern ließen, ja in der späten Reforma­tionsgeschichte der 50er Jahre lebte diese Streitsucht wieder heftig auf. Melanchthon wurde müde und auch bitterer, sogar härter in seinen Urteilen. Seine Ideale waren vielleicht doch zu hoch, nicht nur für seine Zeit. Auf dem Sterbebett schrieb Melanchthon einen Zettel, darauf war zu lesen:

Du entkommst den Sünden. Du wirst befreit von aller Mühsal und der Wut der Theologen. Du wirst ins Licht kommen, Gott schauen, Gottes Sohn betrachten. Du wirst jene wunderbaren Geheimnisse lernen, die du in diesem Leben nicht verstehen konntest: Warum wir so erschaffen sind, wie wir sind, und worin die Vereinigung der beiden Naturen in Christus besteht."

Das war das Ziel aller Wege Melanchthons, „das Jenseits ... wie eine Universität vor[gestellt], als himmlische Akademie“ (Jung S. 145). Wie hoch der große Lehrmeister von der Bildung und Schule dachte, wird in einer Schrift aus dem Jahre 1536 deutlich, dem „Loblied auf das schulische Leben“, die ich hier in Auszügen ans Ende stellen möchte:

[Zitat aus: De laude vitae scholasticae oratio, siehe Anhang 3]



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© 2010 Dr. Reinhart Gruhn

www.g21.de        dr.gruhn@g21.de




Literatur:


Robert Stupperich, Philipp Melanchthon. Gelehrter und Politiker, Göttingen 1996

Martin Greschat, Philipp Melanchthon. Theologe, Pädagoge und Humanist, Gütersloh 2010

Martin H. Jung, Philipp Melanchthon und seine Zeit, Göttingen 22010

Philipp Melanchthon, Glaube und Bildung. Texte zum christlichen Humanismus, Reclam 1989; 2010





Anhang 1: Encomion eloquentiae (1523) – Lobpreis der Sprachkultur
von Philipp Melanchthon

Sprache - Denken, Lektüre klassischer Autoren, pädagogische Bedeutung eigener Formulierungsversuche


Wer also die Dinge nicht unbedacht einschätzen will, möge sich klar machen, daß es nichts gibt, dessen Nutzen weiterreicht als die Vorteile der Sprache. Das gesamte menschliche Zusammenleben, die Ordnung des öffentlichen und privaten Lebens, die Beschaffung aller lebensnotwendigen Güter, endlich aller Handel und Verkehr werden von der Sprache umfaßt.

Weiterhin mache er sich klar, daß nur der sich treffend und deutlich äußern kann, der seine Redefähigkeit in der bei uns öffentlich gebrauchten Sprache kunstfertig und sorgfältig durch die Nachahmung der besten Schriftsteller ausgebildet hat. Wenn er das verstanden hat, wird für ihn ohne Zweifel kein Anliegen vor der Ausbildung seiner sprachlichen Fähigkeiten kommen. Mag jemandem ein hilfreicher Rat zu geben oder etwas beizubringen sein, mag es darum gehen, ein Dogma abzusichern oder sich über rechtliche und ethische Fragen zu äußern, kaum dürfte man mehr als auf der Bühne Stumme bewirken, wenn man nicht eine kunstvoll ausgearbeitete Rede vorbringt, welche zunächst dunkle Sachverhalte in hellem Licht erscheinen läßt.



Die unverfälschte und ursprüngliche Gestalt der Sprache ist Schönheit.



Wer sich nicht um ihre Nachahmung bemüht, kann die Hoffnung, sich richtig ausdrücken und denken zu lernen, gleich aufgeben. Es bleibt noch die andere Begründung für die Behauptung zu nennen, durch rhetorische Studien werde die Urteilskraft geschärft. Dies geschieht dadurch, daß die Bemühung um guten sprachlichen Ausdruck an sich die Geisteskräfte so auffrischt, daß man bei allem das Passendste und Nützlichste besser wahrnimmt. Denn wie allem Anschein nach der Körper durch Übung gekräftigt wird, so müssen die Geisteskräfte derer abstumpfen, die sie nicht durch anspruchsvolle Betätigungen anregen. Niemand zweifelt daran, daß die Lektüre guter Schriftsteller sehr nützt. Wenn man sich aber nicht zusätzlich ans Schreiben und Reden gewöhnt, durchschaut man weder klar genug ihre Aussagen und sprachlichen Qualitäten, noch gewinnt man für eigene Urteile und Erläuterungen eine genaue Richtschnur. Zur Förderung der eigenen Sprach- und Denkfähigkeiten ist deshalb nichts so notwendig wie die Betätigung des Schreibstiftes. Was meinte Afranius mit seinem Bild vom übenden Gebrauch als Vater der Weisheit anderes als daß die geistigen Kräfte durch die ständige Mühe des Nachdenkens und des Formulierens geweckt und gebildet werden? Anaxagoras hat dazu der Nachwelt den denkwürdigen Ausspruch hinterlassen: »Die Hand ist die Ursache der Weisheit«, weil seiner Beobachtung nach alle Kunstfertigkeit durch Übung erlangt wird und Untätigkeit den Geist unfruchtbar werden läßt.



Ich werfe hier den akademischen Lehrern nicht nur ihre scheußliche Sprache, sondern auch ihr fehlendes Denkvermögen vor. Gegen solche Mängel können sich die sprachlich und literarisch Ungebildeten nicht behaupten.

Deshalb möchte ich euch unentwegt ermahnen, euch um eine gepflegte Sprache und die Fächer zu bemühen, ohne welche die Beschäftigung mit den übrigen Wissenschaften nur schief laufen kann. Auch die Verantwortung für das öffentliche Leben verlangt dies von euch. Denn wenn Barbarei die wichtigeren Fächer verdirbt, kommen immer auch die Sitten der Menschen in Gefahr. Vielmehr gilt nämlich, daß gute Sitten aus der rechten Lehre kommen als - wie Plato meinte - aus den Gesängen der Musiker. So viel zu diesem Thema.





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Anhang 2: Praefatio in officia Ciceronis (1534)
Vorrede zu Ciceros Buch
Über die Pflicht
von Philipp Melanchthon


Denn alle Künste und Wissenschaften sind Mittel, das private Leben zu bewahren oder das Gemeinwesen zu leiten.



Deshalb müssen wir gute Schriftsteller lesen, damit wir aus ihnen eine gute Ausdrucksweise lernen und uns, indem wir sie nachahmen, Formulierungen aneignen, die bei der Erklärung wichtiger Sachverhalte verwendet werden und Licht in unklare Zusammenhänge bringen können, wenn andere, wie es oft vorkommt, über Wesentliches aufzuklären sind. Bekanntermaßen ist Cicero der beste Lehrer im sprachlichen Ausdruck.



Denn wir müssen besonders darum bemüht sein, manches in unseren eigenen Sprachgebrauch zu übernehmen und so unsere Ausdrucksweise zu bereichern. In diese Werke ist nicht nur oberflächlich Einblick zu nehmen, wie wir schöne Gemälde, die uns vor Augen gestellt werden, nur um des Genusses willen betrachten und nichts davon mitnehmen; wir müssen sie vielmehr als liebliche Gärten ansehen, darin wir überall die Früchte und Blumen pflücken, an denen wir die größte Freude haben.



Ferner steht fest, daß alle eine Sittenlehre und Beschreibung der Tugenden brauchen, damit uns bei unserem eigenen Verhalten und bei der Beurteilung der menschlichen Angelegenheiten einsichtig wird, was sich gehört und was sich nicht gehört, wo recht gehandelt wurde und wo unrecht. Wir müssen also Modelle und Bilder der Tugenden in uns tragen, nach denen wir uns bei allen unseren Entscheidungen und bei der Beurteilung aller unserer Angelegenheiten richten. Diese Lehre hat etwas mit wahrer menschlicher Bildung zu tun. Sie zeigt allen Altersstufen eine gesittete Lebensweise auf, bei deren Unkenntnis man fast in die Nähe der Tiere gerät.



… muß ich doch, wie mir scheint, auch hier darauf zu sprechen kommen, um meine Hörer von dem Irrtum fernzuhalten, der schon gar manchen erfaßt hat, es sei für Christen unwürdig, jene Schriften der Heiden zu lesen und sie hätten der Philosophie möglichst weit aus dem Wege zu gehen. Deshalb möchten wir darüber kurz unsere Auffassung entwickeln. Die Philosophie sagt nichts über den Willen Gottes aus, sie gebietet nicht die Furcht vor Gott und das Vertrauen zu ihm. Denn all dies gehört ausschließlich zum Evangelium. Jedoch sind außerdem auch Vorschriften zum weltlichen Leben nötig, denen die Menschen entnehmen, wie sie friedlich zusammenleben können. All das wird in der Philosophie weitergegeben, von hervorragenden Männern sind die in der Vernunft liegenden Ansätze dafür aufgespürt worden.



Doch liegt Gott auch an den Pflichten des weltlichen Lebens, und er verlangt sie allen Altersstufen ab. Er will, daß die Menschen durch diese Morallehre ähnlich in Schranken gehalten werden wie durch die Gesetze und Anordnungen der Obrigkeit. Denn diese hängen mit den ethischen Normen weithin zusammen, sind doch aus ihnen wie aus ihren Quellgründen alle Gesetze und Rechte der Obrigkeit entstanden.



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Anhang 3: De laude vitae scholasticae oratio (1536)
(Corpus Reformatorum
XI.298-306) von Philipp Melanchthon

Grundlegung des gesellschaftlichen Lebens in der Schule


[Melanchthon hat hauptsächlich die Hochschule im Auge. Da diese jedoch zu seiner Zeit auch Aufgaben wahrnahm, die heute in die Zuständigkeit der Schulen fallen, wird hier der Ausdruck »Schule« verwendet.]


… im Goldenen Zeitalter, falls es ein solches gegeben hat, gelebt haben oder sicherlich gelebt hätten, wenn es jenes Goldene Zeitalter gegeben hätte, wenn die menschliche Natur von Sündenfall und Tod unversehrt geblieben wäre. Was wäre dann nämlich das menschliche Leben anderes gewesen als eine fröhliche Schule, in der die Älteren und Besseren ihre Mitmenschen über religiöse und naturwissen­schaftliche Fragen, die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, die Himmelsbewegungen und alle Obliegenheiten des Lebens belehrt hätten? Ältere und Jüngere hätten ihre ganze Zeit mit solchen philoso­phischen Fragen und Erörterungen zugebracht. So stelle ich mir das Leben Adams und ähnlicher hervor­ragender Männer vor. Das Abbild dieses überaus glücklichen Zustandes ist das schulische Leben.



Keine Aufgabe ist Gott so wohlgefällig wie die Erforschung und Verbreitung von Wahrheit und Gerech­tigkeit. Denn diese sind die besonderen Gaben Gottes, die seine Gegenwart am deutlichsten erkennen lassen. Auf ihre Bewahrung kommt es ihm hauptsächlich an, sind sie doch im besonderen dazu geschaffen, einander Gott und alles, was sonst gut ist, bekanntzumachen. Zu diesem Zweck hat Gott dem Menschen die sprachliche Verständigung gegeben. Deshalb kann kein Zweifel bestehen, daß der Lebensform des Lehrens und Lernens das größte Wohlgefallen Gottes gilt und daß den Schulen im Blick darauf der Vorrang vor Kirchen und Fürstenhöfen gebührt, weil man in ihnen mit größerem Einsatz nach der Wahrheit strebt. Wem es auf eine gottgefällige Lebensweise ankommt, der ziehe sich nicht in die Einsamkeit zurück, der halte keine andere Lebensform für heiliger, sondern er bleibe in der Gemeinschaft der Lernenden, er suche sich hier um die Menschheit verdient zu machen, er lehre andere in dem Wissen, daß diese Tätigkeit der Erhaltung und Verbreitung der höchsten Güter nützt.



Mit der gleichen Haltung, mit der die Gläubigen in die Kirchen kommen, um ihre Andacht zu verrichten, solltet ihr in die Schulen eintreten. Denn auch hier geht man mit Heiligem um. Mit großer Sorgfalt müssen wir hier unseren heiligen Pflichten nachkommen, damit wir nicht Künste und Wissenschaften durch Unwissenheit oder andere Versäumnisse zugrunde richten. Es ist nicht weniger schuldhaft, Künste und Wissenschaften verkommen zu lassen als die Gottesdienste in den Kirchen mit Schande zu bedecken.



Je besser der Zustand ist, in dem sich ein Staatswesen befindet, desto großzügiger verhält es sich gegenüber denen, die den Künsten und Wissenschaften nacheifern.



Fachleuten über die höchsten und wichtigsten Probleme zu hören, über die Vielfalt der Wirklichkeit, über den Staat, über die Formen der Religion. Es gibt einen alten Spruch: »Außerhalb der Universität kein Leben.« Er weist auf das Vergnügen, welches das schulische Leben bereitet. Sicher ist dieser Ausspruch bei Gebildeten und Einsichtigen entstanden, die sich über die ungeheure und lustvolle Wirkung des Gedanken­austauschs im Umgang miteinander klar waren.

[Id dictum opinor ortum esse ab eruditis et prudentibus, qui intelligebant, et quantam haec consuetudo, et communicatio sermonis vim habeat, et quantam pariat voluptatem. Delectat bonos et virtus illorum,]



Das Zusammenleben mit gebildeten und aufrichtigen Menschen, die auf sittliches Verhalten achten und alle ihre Handlungen und inneren Regungen von vernünftigen Überlegungen leiten lassen und gleichsam zügeln, ist höchst angenehm. Deshalb gibt es keine innigeren und festeren Freundschaften als die »philoso­phischen«, d. h. die Freundschaften von Gebildeten, die durch gemeinsame geistige Beschäftigungen entstanden sind.



Ich habe hier nur einiges aufgezählt, damit die jungen Studenten Sinn und Neigung für ihre gegenwärtige Lebensweise entwickeln und damit sie weiterhin auch bedenken, wieviel Sorgfalt und Besonnenheit sie ihnen abverlangt, wenn sie ihr Ehre machen wollen. Die Gelehrten stehen hoch über allen menschlichen Lebensbereichen. Wenn wir also unserer Aufgabe, die von allen die schwerste ist, gerecht werden wollen, müssen wir uns beim Lehren im höchsten Maße anstrengen. Die Erhaltung und Verbreitung lebens­förderlicher Wissenschaft ist die heiligste und Gott wohlgefälligste Tätigkeit im Leben. Wir müssen deshalb wissen, daß Gott diejenigen zur Rechenschaft ziehen wird, die den Schulen durch ihre schlimme Lebensweise Schande machen und zur Erhaltung der Wissenschaft nichts beitragen.

[Est et sanctissimum vitae genus et Deo gratissimum, conservare et propagare doctrinam vitae utilem. Sciamus igitur Deo poenas daturos illos, qui moribus suis dedecorant Scholas, qui non conferunt aliquid operae ad doctrinae conservationem.]



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