Augustin oder: Die Reinigung der Seele.

Seele und Geist in Geschichte und Gegenwart

Ein Beitrag zum Verhältnis von Religion und Psychologie

Vortrag im Rahmen der Allgäuer Leserakademie



von

Reinhart Gruhn



Kempten 2012





Inhaltsverzeichnis

I. Seele und Geist bei Platon und Aristoteles

1. „Unsterblichkeit“ der Seele bei Platon

a. Die „Beweise“ der Unsterblichkeit der Seele im Phaidon

b. Begründung der Ewigkeit der Seele im Phaidros

c. Die dreifache Struktur der Seele im Timaios

2. Seele als Form des Körpers bei Aristoteles

a. Seele als Entelechie eines lebendigen Körpers

b. Der Aufbau der verschiedenen Seelenarten

c. Die Funktionen der Seele im Menschen

d. Monismus und Dualismus: Hylemorphismus

II. Der Anfang einer Psychologie: Augustin

1. Augustins Lebenslauf

2. Manichäismus und Neuplatonismus

a. Manichäismus

b. Neuplatonismus

3. Die Seele unter der Erbsünde – Augustins Confessiones

a. Augustins Bekehrungserlebnis – Befreiung und Zusammenbruch

b. Die Erbsünde als Schema der Selbsterkenntnis

c. Bekehrung als Überwindung der Sexualität

d. Der ödipale Komplex

4. Befreiung und Heilung der zerrissenen Seele - Augustin und die Folgen

III. Die Entdeckung des Selbstbewusstseins

1. René Descartes' 'denkendes Etwas'

2. Ich, Selbst, Bewusstsein bei David Hume

3. Übergänge: Von der Romantik zum wissenschaftlichen Naturalismus

IV. Die andauernde Bedeutung des Seelischen

1. Das Leib-Seele-Problem in aktueller philosophischer Sicht – Ansgar Beckermann

2. Die Virulenz des Seelischen

a. Das System dreier evolutionärer Prozessontologien – Franz Mechsner

b. Eine aristotelische Rückbesinnung

3. Leib – Seele – Einheit im Komplementaritätsmodell

V. Offene Fragen und Ausblicke

1. Ein holistischer Begriff der „Anima“

2. Das 'radikal Böse'

3. Rituale der Reinigung

VI. Literaturverzeichnis





  1. Seele und Geist bei Platon und Aristoteles



Wenn man über Psychologie und Religion nachdenken will, so ist das gemeinsame Thema die „Seele“. Die Psychologie benutzt dieses Wort aber kaum noch; würde man den Psychiater als Seelenarzt bezeichnen, so hätte das einen recht altertümlichen Klang. Seele ist zwar noch ein Wort der Umgangssprache, wenn mir zum Beispiel 'etwas auf der Seele liegt', also mich bedrückt. Aber das „Seelchen“ ist nur noch die leicht spöttische Bezeichnung für einen überempfindlichen Menschen. „Seele“ ist als Begriff für die Wissenschaft offenbar zu unscharf und ungenau, so dass man lieber vom Bereich des Mentalen spricht. Außerdem ist der Seelenbegriff gewissermaßen ideologisch vorbelastet, weil er religiös aufgeladen zu sein scheint. Jedenfalls spielt die Seele in der Religion, genauer in der christlichen Frömmigkeit und Theologie, eine herausragende Rolle. Um ihre Unsterblichkeit geht es schließlich, wie nicht zuletzt die vielfältigen Rituale und Sprachformeln um den Tod und das Sterben herum beweisen. Da wird landläufig im Sterbezimmer nach dem Hinscheiden das Fenster geöffnet, und auch dem verbocktesten Säkularisten ist durchaus wohl dabei, wobei er sich nicht deutlich macht, dass es in dieser Sitte um das Ausfliegen und Aufsteigen der Seele geht. Und um die Reinheit der Seele geht es im religiösen Kontext, um ihre Unbeflecktheit von allem Bösen, um für die ewige Seligkeit vorbereitet zu sein. Oft hat in diesem Zusammenhang in frommer Poesie das „Herz“ die Rolle übernommen, die ehedem der Seele eignete. Dennoch dürfte für den durchschnittlichen Christenmenschen katholischer wie protestantischer Provenienz die Unterscheidung von Körper und Seele selbstverständlich geläufig sein und die Seele als derjenige „Teil“ des Menschen gelten, der „irgendwie“ selbständig ist und als Träger des Personalen mit dem Tode nicht vergeht, ja nicht vergehen darf. Denn sonst wäre ja „mit dem Tode alles aus“, wie es in Umfragen so schön heißt.

In dieser ersten Annäherung an unser Thema ist eigentlich schon alles präludiert, was uns nun ausführlicher beschäftigen soll. Um die Beweise der „Unsterblichkeit der Seele“ geht es traditionell vor allem Platon, der uns den Unterschied nicht nur, sondern die ontologische Differenz von Körper und Seele aufgezeigt haben soll, wie mit dem Hinweis auf das „Höhlengleichnis“ gerne verdeutlicht wird. Wir werden sehen. - Auch der Großmeister der klassischen Philosophie, Aristoteles, hat sich ausführlich mit der Seele und ihren Kräften befasst und ist vor allem in der mittelalterlichen scholastischen Theologie wirkmächtig geworden. Allerdings musste man ihn erst platonisch zurecht biegen, ehe man ihn zum katholischen Oberhoftheologen befördern konnte. Immerhin verhalf Aristoteles zu genaueren Distinktionen dessen, was substanziell unter Körper und Seele zu verstehe sei. Wir werden sehen, wie weit uns das hilft. - Um die Reinheit, genauer um die Reinigung der Seele und um ihren Aufstieg in den Himmel der ewigen Unwandelbarkeit Gottes ging es in ganz hervor gehobener Weise Augustin, dem „Kirchenvater“. Er war es tatsächlich, sofern all das, was ich eingangs als Auffassung des „Normalchristen“ skizziert habe, letztlich auf ihn, Augustin, zurück geht. In unserem Zusammenhang ist er allerdings weniger in seiner kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlichen Bedeutung zu würdigen, was am Rande auch geschehen wird, sondern in „psychologischer“ Hinsicht. In seinen Confessiones, den literarisch und rhetorisch glänzend gestalteten persönlichen „Bekenntnissen“, hat Augustin erstmals so etwas wie eine stilisierte Darstellung seines Seelenlebens vorgelegt, jedenfalls sollte es so aussehen, und damit in eine Richtung gewiesen, die sich der fortwährenden gewissenhaften Selbstprüfung und Selbstrechtfertigung oder auch Selbstverurteilung widmete. So entstand die Urform der öffentlichen Gewissenserforschung und der liturgisch gestalteten Exerzitien auf der einen Seite und eine die inneren Beweggründe aufsuchenden und durchs Aussprechenden bannenden und los werdenden Selbstanalyse auf der anderen Seite. Der viel später und ganz anders gefundene Weg der Psychoanalyse schien hier erstmalig auf. Dabei blieb Augustin durchaus seiner langjährigen Bildung durch die Stoiker (Cicero) und den Neuplatonismus bestimmt. Mit ihm brach sich nun ein theologisch durch die Lehre von der Erbsünde aufgeladener Dualismus Bahn, - ein verkapptes Erbe des Manichäismus im Denken Augustins. Wir werden sehen. - Mit dem platonistischen Dualismus war erst einmal Schluss, als mit dem Beginn der Neuzeit das Bewusstsein in den Mittelpunkt rückte und das Selbstbewusstsein thematisiert wurde. Descartes unterschied zwischen res cogitans und res extensa, und das war nicht mehr dasselbe wie die alte Unterscheidung von Körper und Seele. Man trat nun ein in den Bereich des Mentalen, wenn man sich dem näherte, was man früher „Seele“ nannte, und fügte gleich den Bereich des Geistigen auch mit hinzu: Mental ist somit alles, was nicht res extensa, nicht direkt körperlich ist. Künftig ging es um den Gegensatz Geist – Materie; die Unterscheidung von Körper und Seele erschien dann nur als ein etwas unpräziser Spezialfall. Wenn es denn überhaupt noch um einen Gegensatz ging. Die frühen Rationalisten und Empiristen wie John Locke und David Hume ließen im Grunde nichts mehr als wahr und wirklich = überprüfbar gelten, was nicht sinnlich erfasst werden konnte. Selbst der Apriorismus eines Kant ließ zumindest für die späteren Interpretationen offen, ob die transzendentalen (= Frage nach der Bedingung der Möglichkeit) Gegenstände des Denkens noch eine ontologische Valenz hatten oder eben nur Konstruktionen unseres Geistes sind. Erst ein Hegel ließ in einer machtvollen Interpretation der Entfaltung des absoluten Geistes im denkenden Selbstbewusstsein zugleich das ganze „Sein“, also das, was Descartes die res extensa genannt hatte, dialektisch inbegriffen sein. Diesem Pendelschlag des deutschen Idealismus in Hochform folgte aber die Gegenbewegung, gewissermaßen die Strafe durch die „List der Vernunft“, auf dem Fuße: Mit dem Siegeszug der Naturwissenschaften und ihrer eigenen Rationalität zog ein meist praktischer, oft auch theoretischer Monismus in unser neuzeitliches Denken ein, das mentale Phänomene nur noch als Epiphänomene an der vorfindlichen und experimentell überprüfbaren Struktur der Materie beschreiben konnte. Das naturalistisch-monistische Weltbild bescherte uns dann auch eine Form der Hirnforschung, die einen selbständigen, von der Materie unabhängig zu denkenden geistigen Bereich des Menschen inklusive der Willensfreiheit bestreiten zu müssen meinte, weil man dies in den Molekülen nicht finden konnte. Dort gibt es nur die Realität der Reiz geleiteten Reaktion und (pseudo) Aktion. Weder eine Seele noch auch eine Psychoanalyse, die als unwissenschaftliche Willkür beliebiger Interpretation abgekanzelt wird, hat dort noch Platz. Eine theory of mind, eine Bewusstseinstheorie, ist alles, was noch möglich scheint. Dies stößt natürlich auf Widerspruch. Wir werden sehen. - Schon ist aber zu erkennen, dass wir uns mit diesen Überlegungen in ein Wespennest vorbelasteter Geschichte und vorgefasster Meinungen begeben, ein gefährliches Unterfangen! Nun, wir „denken“ ja bloß, und das soll dann auch präzise geschehen, wenn wir diese Geschichte eines Gegenstandes wie den der „Seele“ nachzeichnen wollen. Der Überblick muss skizzenhaft bleiben, kann aber vielleicht doch dabei helfen, etwas mehr Klarheit über die „psyché“ (ψυχή) zu gewinnen, die in Philosophie und Religion eine so große Rolle gespielt hat und noch spielt. Fangen wir darum ganz konkret an – mit Platon.



    1. Unsterblichkeit“ der Seele bei Platon

Am bekanntesten ist die Seelenlehre, wie Platon sie im „Phaidon“ darstellt. Der berühmte Dialog, der die Gespräche des Sokrates mit seinen Freunden am Tag seiner Hinrichtung in eine literarische Form gegossen hat, gilt als locus classicus für Platons Beweise der Unsterblichkeit der Seele. Aber erstens ist das mit den Beweisen bei näherem Hinsehen gar nicht so eindeutig, und zweitens hat sich Platon noch mindestens zweimal an anderer, aber ebenfalls prominenter Stelle über die Seele ausgelassen, und dort klingt es jeweils recht unterschiedlich: im Phaidros und innerhalb der Kosmologie des Timaios. Die recht unterschiedlichen Fragestellungen und Akzentuierungen des Themas „Seele“ zeigen, wie breit und komplex und wie wenig scholastisch und systematisch Platon gedacht hat.

      1. Die „Beweise“ der Unsterblichkeit der Seele im Phaidon

Ausgangspunkt des Gespräches zwischen Sokrates und seinen Freunden ist die Gelassenheit, ja Freude des Sokrates angesichts seines bevorstehenden Todes. Er begründet sein Verhalten so: Ein Philosoph strebe Zeit seines Lebens nach der Weisheit, werde aber vom Körper und seinen Bedürfnissen immer wieder gestört und „hintergangen“ [65b]. Die Wahrheit könne man wenn überhaupt erst dann erkennen, wenn die Seele „abgesondert vom Leibe für sich allein sei“ [67a], wie es erst im Tod der Fall ist. Dies ist eine „Reinigung“ und „Befreiung“ der Seele, die sie ganz und gar von den Banden des Leibes absondert und damit zum echten Philosophieren führt. [67c;d] Der Einwand des skeptischen Kebes, „das von der Seele findet großen Unglauben bei den Menschen“ [70a] und mache auch ihn selber zweifelnd, lässt Platon nun durch Sokrates so beantworten, dass sie „miteinander durchsprechen, ob es wahrscheinlich ist, dass es sich so verhalte“ [70b], dass nämlich die Seele sich im Tode vom Leib trennt und erst dadurch zur Erkenntnis der Wahrheit fähig ist.

Es folgt nun ein dreifacher, in sich noch einmal abgestufter Argumentationsgang, den man sehr missverständlich als „Beweise der Unsterblichkeit“ bezeichnet. Genau das liefert er nicht. Platon fragt nach Plausibilität, danach, ob es nahe liegend ist, so von der Seele zu reden und zu denken. Das griechische Wort dafür ist εικός (eikós) und bezeichnet keineswegs das, was wir unter einem logisch stringenten Beweis verstehen. Insofern gehen die vielfachen „Widerlegungen“ dieser „Beweise“ fehl, als sie Platon mit etwas konfrontieren, was er so nicht beabsichtigt hat. Hans Georg Gadamer weist zu Recht darauf hin, dass Platon wohl der Erste wäre, dem das aufgefallen wäre („... ob nicht Plato das Unzureichende dieser Beweise mit vollem Bewusstsein gesehen hat; ... wird klar, dass am Ende der Beweisanspruch aller dieser Argumentationen auf das Hypothetische begrenzt wird.“ H.G. Gadamer, Wege zu Plato, S. 11). Seine Intention ist also eine andere. Er lädt zu einem Gedankengang ein, der nicht zufällig „mimetisch“ (Gadamer) im Angesicht des Todes des Sokrates erfolgt und eine Denkmöglichkeit beschreiben möchte, die den am Ende des Phaidon beschriebenen Mythos mit seinem Logos versöhnt. Es ist also ein heuristisches Verfahren, das Platon wählt, um die 'Probe' des Denkens durch Argument und Gegenargument durch zu führen. Wer diesen Gesprächsgang ontologisiert, also als definitive Aussage über eine Seinsordnung versteht, reißt sie aus dem konkreten Dialog der Suche nach Wahrheit heraus. Es sind ohne Zweifel starke Aussagen und faszinierende Gedankengänge, die hier im Phaidon zu finden sind, die aber vor allem einen Denkhorizont aufreißen, den auszubuchstabieren und auszumessen es der nächsten Jahrhunderte bedarf.

Der Argumentationsgang selber sei nur knapp skizziert. In einem ersten Gedanken weist Platon auf die Analogie des Werdens, Vergehens und Auferstehens in der Natur hin. Im nächsten Schritt geht es darum, dass Lernen als Wiedererinnern und darum die Seele als präexistent zu denken sei. Im dritten Gedanken schließlich wird die Seele dem Bereich des „wahren Seins“ zugewiesen, und diese Anteilhabe mache ihre Einheit, die Gegensätze wie den Tod ausschließt, ihre Unveränderlichkeit und darum eben Unsterblichkeit aus. In zwei vertiefenden Gedankengängen geht Sokrates zuerst auf den (pythagoreischen) Einwand des Simmias ein, die Seele sei so etwas wie die Stimmung (Harmonie) des Körpers und vergehe mit diesem. Sodann nimmt Sokrates den eher skeptischen Einwand des Kebes auf, die Seele sei zwar dauerhafter als der Körper, verzehre sich aber nach und nach in ihrer Lebenskraft. Beide Einwände widersprechen, so lässt Platon seinen Sokrates argumentieren, dem Verständnis der Seele als dem Reich der Ideen, der unveränderlichen Wahrheit, zugehörig. Zu diesem höchsten Sein gehöre Leben seinem Begriffe nach hinzu. Also müsse die Seele unveränderlich und unsterblich sein. Wenn man so will, haben wir hier zum ersten Mal die Form des „ontologischen“ Gottesbeweises vorliegen. Richtiger aber ist es, diesen Gedankengang im Rahmen des platonischen Verständnisses der Ideen zu verstehen, denn auch die berühmte Welt der Ideen ist bei Platon keineswegs so klar definiert und ontologisch fest gezurrt, wie es der Platonismus als System später behauptet.

      1. Begründung der Ewigkeit der Seele im Phaidros

Ganz anders wird die Struktur der Seele im Phaidros beschrieben. Die Seele ist unentstanden, sich selbst bewegend und darum unsterblich. Sie trägt die Wiedererinnerung an die Ideen der Schönheit, Wahrheit und des Guten in sich und ist insofern „Ebenbild, Abbild des dortigen“ [245e]. Er fährt fort, das Wesen der Seele „gleiche der zusammen gewachsenen Kraft eines befiederten Gespannes und seines Führers“ [246a]. Dies Gespann besteht aus einem edlen und einem unedlen Ross, die zu lenken das Geschick des Wagenführers ausmacht. Der unterste Teil der Seele verbindet sich als triebhafter mit den Körpern, wie es auch bei Tieren geschieht, der bessere Teil zieht (affektiv?) zum Höheren hin, und die Führung der Vernunft lenkt beide. Die sehr knappen und zu mancherlei Interpretationen verleitenden Ausführungen werden bei Aristoteles in klarer Gliederung wieder auftauchen. Die Unterscheidung der Seelenteile jedenfalls ist ein neuer Aspekt, der die menschliche Seele strukturiert und nur dem höheren „befiederten“ Teil die Aufgabe zu weist, sie als dem Wesen nach Ähnliches zum Reich des Göttlichen empor zu heben („hinauf zu führen, wo das Geschlecht der Götter wohnt“ [247d]).

      1. Die dreifache Struktur der Seele im Timaios

Einen wiederum anderen Zugang gewinnt Platon im großartigen Gebäude seiner Kosmologie im Timaios. Der Demiurg vollführt dem göttlichen Plan folgend nach dem Abbild des höchsten Seins den Weltbau und pflanzt dabei die „Weltseele“ als inneres Lebensprinzip der Körperwelt ein: „So also sei, müssen wir der Wahrscheinlichkeit nach annehmen, durch Gottes Fürsorge diese Welt als ein beseeltes und in Wahrheit mit Vernunft begabtes Lebendes entstanden.“ [30b] Die Weltseele hat dabei ein inneres Strukturprinzip, das sie mit dem Körperlichen einerseits und dem „Idealen“ andererseits verbindet. Genau diese Mittel- und Mittlerposition kehrt bei der Schaffung des Menschen wieder. Auch in der Seele des einzelnen Menschen finden sich sterbliche Seelenteile, die mit der Körperwelt verbunden sind, und der unsterbliche Teil der Seele, der ihre wahre Herkunft aus dem Reich des Göttlichen, Wahren, Guten kennzeichnet. Die sterblichen Seelenteile sind noch einmal in einen schlechteren mit Lust und Leidenschaften und einen besseren mit Liebe und Mut geteilt. Nur der oberste und reine Seelenteil, dessen ungetrübte Herkunft aus dem Reich des Göttlichen sie für immer an diese Wahrheit und Ewigkeit bindet, ist unsterblich [vgl. 69a-e]. Platon mahnt im Timaios, die drei „Gattungen“ der Seele in ihrer je eigenen Aufgabe und Befindlichkeit der Vernunft gemäß zu pflegen entsprechend dem „Ebenmaß ihrer Bewegungen zueinander“ [89e] „Über die vorzüglichste Gattung unserer Seele müssen wir uns aber folgende Vorstellung machen, dass Gott sie jedem als einen Schutzgeist verliehen hat – eben der Teil von welchem wir behaupten, dass er in unserem Körper die oberste Stelle einnehme und uns von der Erde zu dem im Himmel uns Verwandten erhebe“ [90a]. Die Einzelseele wird also durchaus in Analogie zur Weltseele beschrieben, und auch ihr kommt es zu, in der Mitte zwischen Körperwelt und Ideenwelt zu existieren als Abbild und verbindendes Element. Die beschriebene Strukturierung der Seele sollte einen misstrauisch machen gegenüber Aussagen, Platon lehre einfach die Unsterblichkeit der Seele auf dem Hintergrund eines leiblich-geistigen Dualismus. So einfach ist es eben nicht von ihm gedacht, und die unterschiedlichen Beschreibungen der Seele, ihrer inneren Struktur, und das dialogische Herangehen an die Bestimmung ihrer jeweiligen Aufgaben zeigen, dass Platon sehr viel differenzierter und behutsamer, mit Gedankenwegen spielend und in gewisser Weise auch lebensnäher gedacht hat, als es oft in einem etwas plakativen Platonismus verstanden und behauptet wird.



    1. Seele als Form des Körpers bei Aristoteles

Aristoteles hat eine eigenständige Schrift „Über die Seele“ (Περί Ψυχἦς) verfasst. Das ist an sich schon bemerkenswert, darf aber nicht die Erwartung wecken, hier liege eine erste „Psychologie“ vor. Vielmehr rechnet Aristoteles seine Ausführungen über die Seele zum Bereich der Naturforschung. Während er aber in seiner „Physik“ die Naturdinge in ihrer (wir würden heute sagen) 'anorganischen' Beschaffenheit beschreibt, thematisiert er in der „Psychik“ die Grundlagen alles Lebendigen, also der 'organischen' Natur. Allerdings ist diese Einordnung schon erstaunlich, selbst wenn Aristoteles unter Physik und Psyché nicht dasselbe versteht wie wir heute, denn der Schüler Platons unternimmt damit gegenüber seinem Lehrer eine nicht unerhebliche Korrektur. In gewisser Hinsicht kehrt er zur mehr „naturalistischen“ Auffassung der ionischen Naturphilosophie zurück, aber er nimmt das Anliegen Platons durchaus auf, nämlich denkerisch, also auf dem Wege der Vernunft Materie und Geist, Körper und Seele in eine Beziehung zu setzen. Sein Lösungsvorschlag ist ein anderer, als es Platon mit seinem „Ideenhimmel“ vorgelegt hat. Vor allem aber: Der Lösungsvorschlag des Aristoteles ist nicht minder originell und beeindruckend und hat eine vergleichbar bedeutende Wirkungsgeschichte hervor gerufen. Schauen wir uns die Begriffsbestimmungen des Aristoteles im Einzelnen an. Übrigens: Schon dies ist ein auffälliger Unterschied zu seinem Lehrer Platon: Aristoteles geht es in seiner gesamten Philosophie immer um die strenge Bestimmung des Begriffs – nichts da mit hypothetischen Erkundungen von Denkwegen!

      1. Seele als Entelechie eines lebendigen Körpers

Nachdem Aristoteles im ersten Kapitel die früheren Auffassungen über die Seele, und das heißt über das Lebendige, dargestellt und abgehandelt hat, beginnt er gleich zu Beginn der Darstellung seiner eigenen Auffassung mit einer glasklaren Definition: „Es muss die Seele Substanz sein im Sinne der Form eines natürlichen Körpers, der der Möglichkeit nach Leben besitzt. … Deshalb ist die Seele die erste vollendete Wirklichkeit (εντελεχεἶα, entelechéia) eines natürlichen Körpers, welcher der Möglichkeit (δύναμις, dýnamis) nach Leben besitzt.“ Damit wird zudem gesagt, dass die Seele eine Wesenheit (ουςία, ousía) ist, genauer das „Wesens-was“ eines bestimmten natürlichen Körpers. In diesen Definitionen steckt eine ganze Menge aristotelischer Kategorienlehre und Erste Philosophie; aber es wird schon in der Übersetzung deutlich, dass wir es hier mit dem anspruchsvollen Versuch zu tun haben, über Körper und Seele definitiv nicht-dualistisch zu reden. Ausdrücklich lehnt es Aristoteles ab zu fragen, „ob Seele und Körper eins sind“, weil hier Einheit oder Zweiheit unangemessene Begriffe sind für das, was die verwirklichte Form des belebten Körpers ist: nämlich ein konkretes Lebewesen zu sein. Fehlt aktuell diese Form, dann ist der Körper tot und kein Lebewesen mehr, sondern nur noch ein natürlicher Gegenstand, eine Leiche. Die Seele tritt also nicht als etwas Zweites zum Körper eines Lebewesens hinzu, sondern die Seele ist das Lebensprinzip eines Körpers, der ein Lebewesen ist; dies Lebensprinzip ist als Verwirklichung dessen anzusehen, was überhaupt ein Lebewesen sein kann: es oder besser: sie (die Seele) macht das körperliche Lebewesen lebendig. Die Seele wird so „als Ursache und Prinzip des lebendigen Leibes bestimmt.“ (O. Höffe, A., S. 139) Die Seele ist also, um es noch einmal mit Höffe ganz deutlich zu sagen, „nicht etwas, das ein Lebewesen „hat“; sie ist seine volle Wirklichkeit, sein Lebendigsein.“ (S. 140) Damit ist „Seele“ gewissermaßen das, was den Lebensvollzug eines Lebewesens im Ermöglichungsgrund seines Körpers begründet und verwirklicht. Das ist wirklich ein völlig anderes Denkmodell, als es Platon versucht hatte. Kann man Platon noch dualistisch interpretieren, wie es der gesamte Platonismus und vielfach auch der Neuplatonismus getan hat, so ist dieses Verständnis bei Aristoteles eigentlich ausgeschlossen. „Eigentlich“, sage ich, weil es später im Thomismus dennoch recht erfolgreich versucht wurde. Denn das Problem der christlich aristotelischen Theologie lag ja klar auf der Hand: Eine persönliche Unsterblichkeit der Seele war auf der Grundlage des Denkens des Aristoteles nicht mehr gegeben.

      1. Der Aufbau der verschiedenen Seelenarten

Aus der dargestellten Definition des Aristoteles ist schon erkennbar, dass es sich dabei nicht nur um die Definition der Seele des Menschen handelt. Es geht um das Lebensprinzip alles Lebendigen, aller Lebewesen. Über sie insgesamt handelt sein Buch „Über die Seele“. Nun sind aber die Verwirklichungen des Lebens in den verschiedenen Lebewesen unterschiedlich. Aristoteles unterscheidet hier drei grundlegende Formen der Seele als Lebensprinzip: die unbewegte Seele der Pflanzen, die Ernährung und Fortpflanzung ermöglicht; man könnte von der vegetativen Gestalt der Seele sprechen; sodann die Bewegung erzeugende Seele der Tiere, die darüber hinaus Wahrnehmung, Empfindung (Freude, Schmerz) und Antrieb (Lust, Begierde) verwirklicht; man könnte sie die affektive oder animalische Gestalt der Seele nennen; und schließlich die bisherigen Formen noch einmal überbietend die Vernunftseele des Menschen, die für Geist und Sprache zuständig ist: die humane Seele. Es ist Aristoteles damit gelungen, die jeweils höheren Formen oder Kräfte der Seele die niederen einschließen zu lassen, so dass die animalische Seele die vegetative mit umgreift und die menschliche sowohl die vegetative als auch die animalische einschließt. Ersetzt man die Beschreibung der animalischen Seelenform beim Menschen durch die affektiv-emotionale Seelenkraft, so haben wir auf einmal eine sehr modern klingende Strukturbeschreibung der menschlichen Seele vorliegen. Viele werden in späterer Zeit auf die eine oder andere Weise an die Seelenlehre des Aristoteles anknüpfen.

      1. Die Funktionen der Seele im Menschen

Die Merkmale der vernünftigen Seele [vgl. 3. Buch] sind genau die Formen des Denkens, nämlich Wahrnehmen, Vorstellen und Begreifen. Das Denken und Verstehen der Seele, so Aristoteles, ist gebunden an Wahrnehmung, ohne Wahrnehmung kein Begreifen. Das Besondere der 'Denkseele' aber ist es, als Kraft des Geistes sich selber denken zu können, also die Wahrnehmung durch eine Vorstellung zu ersetzen und in sich selbst zu denken. Auch dies ist sehr vorwärtsweisend gedacht, denn diese Bestimmung nimmt in gewisser Weise den modernen Begriff der 'mentalen Repräsentanz' vorweg. Auch die Unterscheidung von leidendem und wirkendem Geist im Vermögen der Seele ist dem Aristoteles bekannt, es entspricht dem, was wir heute Rezeptivität und Spontaneität nennen würden (vgl. Höffe, A., S. 142). Aber erst durch die Wahrnehmung entsteht neues Wissen, das sich auf die Welt erstreckt und im Beurteilen von wahr und falsch die Verknüpfungen des Gedachten im Denken hervor bringt.

      1. Monismus und Dualismus: Hylemorphismus

Wie wir gesehen haben, gelingt Aristoteles eine fundamental neue Bestimmung dessen, was „Seele“ genannt wird. Er baut dabei durchaus im Rahmen seiner Zeit auf dem umfassenden Verständnis der Seele als das, was lebendig macht, auf, schlägt aber einen anderen Weg als sein Lehrer Platon ein. Platons Denken war ein begrifflich noch weniger exakt bestimmtes 'Denken in Bewegung', so dass sich eine Systematisierung eher verbietet, aber die Tendenz zu einer dualistischen Auflösung des Seelenproblems, das heißt der einleuchtenden Zuordnung von Dingen, Denken und Geist, anders gesagt des Zusammenkommens von Dingwelt und Ideenwelt im Akt des erkennenden Denkens und Begreifens, war doch recht eindeutig gewiesen. Zu stark wirkte auf Platons Schüler die Argumentation im Phaidon. Aristoteles denkt von vornherein systematisch und kategorial bestimmt – das sieht er selbst als seinen großen Fortschritt gegenüber den Ungenauigkeiten des Lehrers – und kann so zu einer nicht-dualistischen Art der Bestimmung von Seele und Körper, Wesen und Sein, Geist und Dingwelt gelangen. Man nennt sein Prinzip Hylemorphismus, also übersetzt etwa 'Lehre von der Stoff-Gestalt'. Diese Lösung ist sehr originell und hat das logisch-begriffliche Denken der arabischen Welt im frühen Mittelalter und der abendländisch-christlichen Welt im Hochmittelalter nachhaltig beeinflusst und geprägt. Es wird sich noch zeigen, welches Potential in dieser Begrifflichkeit liegt. Aber wie schon angedeutet: Der klare, 'reine' Aristoteles vertrug sich schlecht mit den Postulaten der christlichen Dogmatik, die es eher mit der Seelenvorstellung des Platonismus / Neuplatonismus hielt und darin ihrem Übervater Augustin folgte. Sollte Aristoteles eine Chance haben, musste sein Denkmodell mit dem Denken Augustins zusammen gedacht werden. Das war die Leistung der aristotelisch-thomistischen Scholastik: die Form aristotelisch, der Inhalt augustinisch. Aber was war denn nun bei Augustinus so prägend und das Denken von Generationen verändernd, dass sogar ein Aristoteles, „der“ Philosoph schlechthin, erst 'angepasst' werden musste? Wenden wir uns darum nun dem „Kirchenvater“ Augustin zu, nicht dem Theologen und Bischof, sondern dem Philosophen und Lehrer, der auch ein Büchlein über die Seele geschrieben hat.





  1. Der Anfang einer Psychologie: Augustin



Augustin ist unter den sogenannten Kirchenvätern für die abendländische Christenheit der bedeutendste. Seine Wirkungsgeschichte für die christliche Theologie und Frömmigkeit strahlt über Jahrhunderte aus und reicht bis in die Gegenwart. Dabei wird sein Einfluss auf die Geistesgeschichte insgesamt dann übersehen, wenn man ihn als antiken Philosophen würdigen will und nicht allzu viel Originelles findet; viel beachtet wurde allein seine Auffassung vom Begriff der Zeit, die er im 11. Kapitel der Konfessionen darlegt. Nicht so sehr mit einer eigenständigen Philosophie (er bleibt durchweg im Rahmen des Neuplatonismus seiner Zeit) als vielmehr durch die Art und Weise, wie er seine „innere“ Entwicklung zum Gegenstand eigener öffentlicher Betrachtung macht, wurde Augustin weit über die christliche Theologie hinaus bedeutsam als Urheber 'psychologischer' Selbstbetrachtungen. Allerdings ist Vorsicht mit Begriffen geboten, die im heutigen Kontext eine ganz andere Bedeutung suggerieren, als es bei Augustin tatsächlich der Fall war. Seine Confessiones, und um diese handelt es sich bei unserem Thema, enthalten zwar eine Art Psychologie, eine Beschreibung des Seelenlebens, aber sein Seelenbegriff ist deutlich vom heutigen Gebrauch des Wortes Seele und erst recht vom Begriff 'Psyche' verschieden. Es handelt sich um eine öffentliche, schriftliche Darstellung, aber eben nicht um eine wissenschaftlich begründete, das heißt einer erklärten Methode folgend. Augustin beschreibt sich selbst in seinem Werdegang, gibt Auskunft über die Entwicklung seines Innersten und tut dies doch stilisiert mit einer bestimmten, erklärenden, rechtfertigenden, pädagogisch belehrenden, letztendlich missionarischen Absicht. Augustin ist gelernter lateinischer Rhetor, das bedeutet öffentlicher Redner und Anwalt, und als solcher ist der Autor um geschickten Aufbau, um innere Dramatik, um genau gesetzte Akzente und um eine klare Quintessenz bemüht. Die dreizehn Bücher (Kapitel) der Konfessionen, also übersetzt: der Bekenntnisse, spiegeln zwar seinen Werdegang und seine Selbsterkenntnis, dienen aber zugleich dem Zweck eines öffentlichen Geständnisses und sind, liturgisch gesehen, als Hymnus, als Lobpreis seines Gottes konzipiert. Damit ist dem Missverständnis vorgebeugt, wir hätten hier die grüblerische Darstellung seines Seelenlebens in schonungsloser Offenheit vor uns, gewissermaßen als schriftlich dokumentierte Selbstanalyse der frommen Seele. Genau das bieten die Bekenntnisse nicht. Augustin liefert uns eine Lehre von der Seele und ist doch kein Psychologe. Er ist philosophisch geschulter Theologe und Bischof, und sein philosophisches Erbe prägt ihn vielleicht deutlicher, als es ihm lieb oder auch bewusst ist. Eine besondere Faszination haben seine Selbstbekenntnis aber von Anfang an ausgeübt, und diese Faszination ist geblieben und auch heute noch spürbar, wenn man sich dem Werk durch eigene Lektüre aussetzt. Dann fällt einem allerdings auch immer wieder der große zeitliche Abstand auf. Es begegnet uns ein ganz anderes Denken, Fühlen, Schreiben als wir es heute kennen. So ohne weiteres ist der Zugang zu Augustin also nicht zu gewinnen. Nähern wir uns dieser heraus ragenden Persönlichkeit mit einem Überblick über sein Leben.



    1. Augustins Lebenslauf

Augustin wurde 354 im nordafrikanischen Thagaste geboren (dem heutigen Souq Ahras im Nordosten Algeriens, 270 km westlich von Tunis (Karthago). Sein Vater Patricius war Angestellter der römischen Provinzverwaltung und hatte einen kleinen Landbesitz. Seine Mutter Monnica, eine christliche Berberin, brachte außer ihm noch zwei weitere Kinder (Bruder und Schwester, Namen unbekannt) zur Welt. Von Monnica wurde Augustinus christlich erzogen; auch sein Vater ließ sich kurz vor seinem Tode 372 taufen. Augustinus wurde in Thagaste zur Schule geschickt und studierte ab 371 in Karthago, der Hauptstadt der Provinz Numidien, Rhetorik und wurde anschließend 376 eben dort Rhetoriklehrer. Während seiner Zeit in Karthago ging er, wie es durchaus üblich war, eine nichteheliche Verbindung ein, die 15 Jahre währte. Den Namen seiner Gefährtin hat Augustin nicht überliefert, nur dass der Verbindung ein Sohn entspross mit Namen Adeodatus = Von-Gott-gegeben. Leuchtendes Vorbild der Rhetorik-Studenten war Cicero, den Augustin auch von seiner philosophischen Seite in der (nicht mehr erhaltenen) Schrift Hortensius kennen- und schätzen lernte. Stoisches Gedankengut hat schon früh in Augustins Denken Eingang gefunden, Cicero hat ihn nach eigenen Angaben sehr beeindruckt und zur Philosophie geführt.

Allerdings war es keine philosophische Schule oder Richtung, der sich Augustin in Karthago anschloss, sondern es waren die Manichäer, eine sich damals stark verbreitende gnostische Gruppierung oder Sekte, wie man aus kirchlicher Sicht sagte. Ihr gehörte Augustin 15 Jahre an, zuletzt mit zunehmender Enttäuschung und Kritik. Allerdings haben ihn manichäische Vorstellungen stark beeindruckt, wie auch seine spätere heftige Ablehnung und Kritik zeigt. Wir werden sehen, dass Augustin zeitlebens von bestimmten manichäischen Vorstellungen geprägt blieb. Mit seiner Mutter Monnica geriet er deswegen in Auseinandersetzungen, die ihn dazu brachten, 383, wie er selber schilderte, fluchtartig Karthago zu verlassen und nach Rom zu reisen. Ein Jahr später wurde er auf Vermittlung manichäischer Freunde als Rhetoriklehrer nach Mailand berufen. Hier lernte er den bekannten Bischof Ambrosius kennen, der ihm den Zugang zu einigen Schriften Platons vermittelte. Bedeutsam wurde Augustins Beschäftigung mit dem Neuplatonismus, denn soeben war die lateinische Übersetzung der Schriften Plotins durch Marius Victorinus erschienen – Augustin konnte kein Griechisch. Da Victorinus außerdem Christ war, legte sich für Augustin dieses Denken als schon beinahe christlich nahe. Er sollte die Wertschätzung des Platonismus (der Begriff Neuplatonismus ist eine Prägung des 19. Jahrhunderts), dem nur der Name Christus fehlte, wie er einmal sagte, bis an sein Lebensende beibehalten. Nicht zuletzt durch Augustin hat dieser Platonismus breiten Eingang in das theologische Denken des Abendlandes gefunden.

Durch Ambrosius lernte Augustin auch die allegorisierende Bibelauslegung kennen, die ihm einen neuen Zugang zum Alten Testament eröffnete. Verbunden mit einer platonisierenden Deutung, wie sie Ambrosius vertrat, tat sich hier endlich eine neue Denkmöglichkeit auf, die für ihn immer zugleich mit dem Anspruch entsprechender Lebensweise verbunden war. So entschloss sich Augustin im Jahr 386, Katechumene zu werden, sich also auf die Taufe vorzubereiten. Er studierte die Bibel und wandte sich besonders den Briefen des Paulus zu. Inzwischen war nun auch dank der ersehnten Entwicklung ihres Sohnes seine Mutter Monnica nach Mailand gekommen (385) und hatte seinen Haushalt übernommen. Vorgeblich standesgemäße Heiratspläne, die aufgrund der Jugend der Auserwählten noch zwei Jahre warten mussten, veranlassten Monnica dazu, auf einer sofortigen Trennung Augustins von seiner Lebensgefährtin zu bestehen. Augustin „schickte“ sie zurück nach Nordafrika, wie er es formulierte, behielt aber den gemeinsamen Sohn bei sich. Weiter äußert er sich nicht zur abrupten Beendigung einer fünfzehnjährigen Lebensbeziehung.

Im Sommer 386 hat Augustin ein Erlebnis, dass er als Höhepunkt in den Konfessionen ausführlich als seine Bekehrung schildert. Es war zugleich eine gesundheitliche Krise, vielleicht auch eine Art midlife crisis, Augustin war damals dreißig Jahre alt. Er gab seinen Beruf auf, verzichtete auf Ehe und Familie und entschloss sich zu einem zölibatären Leben. Er zog sich eine Weile zur Erholung nach Cassiciacum am Comer See zurück und wurde Ostern 387 zusammen mit seinem Sohn Adeodatus und seinem engen Freund Alypius durch Ambrosius in Mailand getauft. Vor seiner Rückkehr nach Karthago starb seine Mutter Monnica 387 in Ostia bei Rom.

Wegen einiger politischer Wirren gelangte Augustin erst 388 nach Afrika zurück; er blieb vorerst mit einer christlichen Gruppe Getreuer auf dem Familienbesitz in Thagaste wohnen. Er begann nun seine schriftstellerische Tätigkeit mit ersten Streitschriften vor allem gegen die Manichäer (Genesiskommentar). In dieser Zeit starb sein Sohn Adeodatus.; auch darüber lässt Augustinus nicht viel verlauten. 391 zog er mit seiner christlichen Laienschar nach Hippo, einer Küstenstadt, heute Annaba nahe der tunesischen Grenze, und gründete dort sein Kloster. Er ließ sich zum Priester weihen und wurde 396 Bischof als Nachfolger des Valerius von Hippo. Damit hatte Augustin seine Lebensaufgabe gefunden, der er sich künftig sowohl kirchenpolitisch als auch mit zahlreichen Schriften widmete. 397/398 entstanden die Confessiones, nachdem Augustin sich im Kampf gegen sektiererische Strömungen bzw. das, was er gemeinsam mit der Mehrheitskirche dafür erkannte (Donatisten, Pelagianer), bei Paulus seine radikale Gnadentheologie entdeckt hatte und sie als Lehre von der Erbsünde entfaltete. Bald entstanden seine in gleicher Weise berühmten Schriften über die Trinität (De Trinitate) zwischen 399 und 419 und über den Gottesstaat (De Civitate Dei) zwischen 412 und 426. In dieser Zeit erlebte Augustin einen weltpolitischen Umbruch: Die Westgoten hatten 410 unter Alarich Rom erobert; die Vandalen schickten sich knapp zwei Jahrzehnte später an, nach Nordafrika über zu setzen. Das altrömische Reich erlebte seinen Untergang; damit wurde auch das Ende dessen eingeläutet, was wir die Epoche der Antike nennen. Bei der Belagerung Hippos durch die Vandalen 430 starb Augustin. Seine Gebeine befinden sich heute in der Kirche San Pietro in Ciel d'Oro in Pavia in der Nähe von Mailand.



    1. Manichäismus und Neuplatonismus

      1. Manichäismus

Über den Manichäismus lesen wir: „Der Manichäismus war eine stark vom Gedankengut der Gnosis beeinflusste Offenbarungsreligion der Spätantike und des frühen Mittelalters. Er verlangte von seinen Anhängern Askese und ein Bemühen um die Reinheit, die als Voraussetzung für die angestrebte Erlösung galt. Der Manichäismus ist nach seinem Gründer, dem Perser Mani (216–276/277), benannt. Er wird zu den synkretistischen Lehren gezählt, da Mani ältere Religionen als authentisch anerkannte und Teile von deren Gedankengut in seine Religion aufnahm. Der Manichäismus wird wegen seiner Ausbreitung bis in den Westen des Römischen Reichs und bis ins Kaiserreich China mitunter als Weltreligion bezeichnet. Mani starb in der Gefangenschaft an den dort erlittenen Entbehrungen; es handelte sich aber nicht um eine Hinrichtung. In manichäischen Quellen wird sein Tod dennoch in bewusster Analogie zum Tod Christi als Kreuzigung bezeichnet, was aber nur metaphorisch gemeint ist. - Manis Lehre ist durch die Unterscheidung von zwei Naturen oder Prinzipien und drei Epochen der Heilsgeschichte gekennzeichnet. Die zwei Naturen sind die des Lichts und die der Finsternis. Die drei Epochen sind die vergangene Zeit, in der die beiden Naturen vollständig getrennt waren, dann die (noch andauernde) Zeit, in welcher der Bereich der Finsternis mit Lichtelementen vermischt ist, und schließlich eine künftige Zeit, in der sie wieder (endgültig) getrennt sein werden. Wegen der Unterscheidung zweier absolut verschiedener und gegensätzlicher Naturen und der ihnen zugeordneten Reiche wird der Manichäismus zu den dualistischen Modellen gezählt.“ (Wikipedia) Kennzeichnend für die Manichäer sind folgende Punkte: a) Es ist eine Erlösungsreligion mit einer umfassenden Regelung des Lebens und Kultus seiner Mitglieder. b) Das Weltbild der Manichäer besteht aus einem antithetischen Dualismus: Licht und Finsternis sind antagonistische Urkräfte, die sich ausschließen. c) Das Menschenbild ist bestimmt vom Kampf des Lichtes („Lichtfunken“) gegen die Mächte des Bösen, das sich im materiellen Leib vergegenständlicht. d) Die Erlösung besteht im Aufstieg der Lichtelemente mit Hilfe Gesandter (Jesus, Mani) zur endgültigen und endzeitlichen Befreiung der Lichtfunken in der körperlosen Lichtwelt. e) Das Leben der Manichäer zielt auf Gemeinschaft und sexuelle Enthaltsamkeit; allerdings konnte die Auffassung, der Leib sei 'unwichtig', auch zu einem praktischen Libertinismus führen – wie häufig bei gnostischen Sekten.

      1. Neuplatonismus

Während der Manichäismus als eine religionsgeschichtliche Erscheinung einigermaßen klar abgrenzbar ist, kann man dies von der Philosophie des Neuplatonismus ganz und gar nicht behaupten. Der Begriff selbst entstammt einer philosophiegeschichtlichen Einordnung des 19. Jahrhunderts. Im Grunde handelt es sich um eine besondere Ausprägung des Platonismus, also der systematischen Weiterentwicklung der Gedanken Platons. Dies konnte natürlich in sehr unterschiedlichen Richtungen erfolgen, und so geschah es auch. Die Entwicklung des Platonismus kann hier nicht verfolgt werden. Aber wenn man heute „Neuplatonismus“ sagt, meint man meist die Philosophie Plotins (270) und seiner Schüler, vor allem des wenig jüngeren Porphyrius (305), ab dem dritten Jahrhundert und ausgehend von Rom, wo Plotin lange Zeit lebte und wirkte, aber weiterhin griechisch schrieb und dachte. Auch Plotins Gebäude der Philosophie ist gewaltig, und seine Enneaden sind von größtem Interesse für Philosophen aller Zeiten. Uns können hier nur wenige Grundzüge interessieren. Das besonders Auffallende am Phänomen des Neuplatonismus ist jedoch, dass er jenseits von Plotins streng philosophischer Lehre den Charakter einer Religion annehmen konnte, in antichristlicher Abzweckung unter Kaiser Julian (360 – 363), und verstärkt dann in Verbindung mit dem Christentum, wie es besonders im Umfeld des Kaiserhofes von Konstantinopel gepflegt wurde. Dieser Platonismus war schulbildend, so in Antiochia, Alexandria, Pergamon und auch in Athen, wo Plutarch um 420 die „Akademie“ wieder neu gründete, bis unter Justinian 529 alle nichtchristlichen Schulen und Kulte verboten wurden. Dieser erlösungsreligiöse Platonismus entsprach offenbar einem Bedürfnis der Zeit, die sich in einem lange andauernden Transformationsprozess befand. So war denn auch der Wechsel Augustins vom praktizierten Manichäismus zum theoretischen Neuplatonismus nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Allerdings war das neuplatonische Denken Plotins ungleich umfassender und philosophisch anspruchsvoller als alles, was es bei den Manichäern zu finden gab.

Der Platonismus eines Plotin (vgl. J. Halfwassen, Plotin) denkt die Welt abgestuft in „Emanationen“ des „Einen“. Dieses Eine (τὁ ἓν, to hen) ist die höchste Stufe des Seins in absoluter Einheit. Darum können keinerlei Eigenschaften und Aussagen über das Eine gemacht werden, nicht einmal das „ist“ darf eigentlich verstanden werden, da beim Einen schon die Aussage des Seins im Unterschied zum Nichtsein seine absolute Einheit verletzen würde. Es kann zwar mit der höchsten Gottheit metaphorisch gleich gesetzt werden, aber auch dann können nur negative Aussagen gemacht werden, was über diese höchste Gottheit alles nicht gesagt werden kann; man spricht hier von „negativer Theologie“. Aus diesem Einen fließt nun als zweite Stufe (Hypostase) der Wirklichkeit der überindividuelle Geist (νούς, Nous) hervor, ohne dass das Eine selbst dabei in irgendeiner Weise verändert wird. Dieses nicht-physische, eher kausal-logisch zu verstehende Hervorgehen wird vom Lateinischen her Emanation genannt. Der Geist schließt nun Vielheit ein, nämlich die gesamte Welt des Geistigen und der Ideen. Dieser Nous ist aber immer noch ein solch vollkommenes Sein, dass es selbst auch nur Vollkommenes denken kann, also nicht geringere Stufen des Seins. Streng genommen denkt der Geist stets sich selbst, wenn er die reine Welt der Ideen in sich bewegt. Aber immerhin bezieht sich dann das menschliche Denken auf diese Ideen im Nous. Hier widersprach Porphyrios seinem Lehrer, indem er auch den Nous noch als reines Sein beschreibt, das menschliches Denken nicht erreichen, sondern nur darüber schweigend meditieren könne. Aus dem Geist entfaltet sich in einer weiteren Emanation die Weltseele, die an sich unsichtbar die ganze Welt belebt und bewegt. Direkt unterhalb der Weltseele beginnt die Sinneswelt der Gegenstände, die ebenfalls als eine weitere, wenn auch vom wahren Sein weiter entfernte Emanationsstufe des umfassenden Seins des Einen anzusehen ist. Die vorhandene Welt der Dinge, also die materielle Welt, ist in diesem Verständnis zwar von geringstem Sein, eigentlich „nichts“, aber dennoch innerhalb der absteigenden Ordnung der Gesamtwirklichkeit befindlich. Insofern denkt der plotinsche Neuplatonismus nicht dualistisch, sondern streng monistisch: Alles fließt aus dem Einen bis in die tiefsten Stufen der Wirklichkeit hinab. Den vom wahren Sein entfernteren Stufen mangelt aber das Wahre und Gute immer mehr, so dass sie auch das „Böse“ genannt werden können, wenn und sofern unter dem Bösen nichts anderes als die Abwesenheit des Guten verstanden wird. Nicht nur diese Vorstellung finden wir dann bei Augustin wieder.

Seele“ wird von Plotin verstanden als Bild des Geistes, der die erste Stufe der Selbstentfaltung des Einen ist. Als Weltseele ist sie das Individuationsprinzip des Geistes in der Welt als Ganzer. In der Seele des einzelnen Menschen kommt somit die ursprüngliche Einheit aller Menschen als Abbild des unendlichen Geistes zum Ausdruck. Man mag hier frühe Anklänge an Fichte und Schelling heraus hören. Ziel ist die Vollendung der Seele durch die Rückkehr in den allumfassenden Geist. Dies übt der Platoniker „in mystischer Einkehr der denkenden Seele“ in einer Art von „intellektueller Anschauung“. (J. Halfwassen, in: Über die Seele, (st) S. 56f.) Genau diese Auffassung der Seele als Bild des ewigen, unveränderlichen Seins des Geistes im Selbstbewusstseins wird Augustin in seiner Trinitätslehre aufnehmen und weiterentwickeln.

Die Aufgabe des Menschen besteht demnach darin, sich unter den Bedingungen des aus Leib und Seele zusammen gesetzten Menschseins durch philosophische Erkenntnis, Läuterung und Übung (der Neuplatonismus verstand sich wie alle antiken Philosophien immer zugleich lebenspraktisch und war darin der Gnosis verwandt) zum höchsten erreichbaren Sein des Geistes (Nous) aufzuschwingen. Für Plotin war dabei der Geist-Teil der Seele verantwortlich, weil dieser seine Verbindung zur Geisteswelt des Nous nie verloren hat. Dies wurde von anderen Platonikern bestritten, weil aus ihrer Sicht die Seele für den Weg zurück zur Fülle der Welt des Geistes göttliche Hilfe zugunsten eines tugendhaften, durch Kunst und Bildung die Seele pflegenden Lebens bedürfe. Auch eine Lehre von der Seelenwanderung fand Eingang in neuplatonisches Denken, wobei keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen der Menschen-, Tier- und Pflanzenseele gemacht wurde. Interessant ist auch, dass diese Platoniker für den logisch-“handwerklichen“ Teil des Denkens auf die Propädeutik, das heißt auf die Logik und Dialektik des Aristoteles zurück griffen. Hier konnten sich Platonismus und Aristotelismus elegant verbinden. Die Metaphysik des Aristoteles insgesamt wurde aber als zu einseitig auf die Welt der Dinge bezogen kritisiert.

Es wurde schon betont, dass es sich bei diesem Denken streng genommen nicht um ein dualistisches Denken handelt. Allerdings konnte die negative Charakterisierung der materiellen Welt durchaus dualistisch missverstanden werden. Dann allerdings wäre der Unterschied zum Manichäismus sehr gering geworden: Der Neuplatonismus konnte insofern als die philosophisch anspruchsvollere Variante dieses Erlösungsstrebens angesehen werden. Kommt dann noch eine dezidierte paulinische Antithetik von Sünde und Gnade hinzu, dann haben wir genau diejenige Mischung, welche das Geheimnis des Denkens und der persönlichen Entwicklung Augustins ausmacht.



    1. Die Seele unter der Erbsünde – Augustins Confessiones

Zurück in Nordafrika vertiefte sich Augustin in das Studium der Bibel, besonders in die Schriften des Paulus. 395 schrieb er einen Kommentar zum Römerbrief, 396 die Quaestiones ad Simplicianum, adressiert an den Nachfolger des Ambrosius im Bischofsamt in Mailand und ihm von damals her ein guter Freund aus neuplatonischen Kreisen. (vgl. Flasch, Augustin, S. 174) Im selben Jahr begann er eine umfangreich angelegte Schrift De Doctrina Christiana, die er aber bald beiseite legte und erst in seinen letzten Lebensjahren wieder aufgriff. Jetzt waren ihm seine Confessiones wichtiger. Denn hier breitet er als rhetorisch durchstilisiertes Geständnis und Bekenntnis aus, was nun die Frucht seines neuen Denkens war. Kurt Flasch spricht von der „einschneidenden Wende von 396“. Sie beinhaltet die Formulierung der spezifisch augustinischen Gnadenlehre und Lehre von der Erbsünde. „Die Schrift von 396 war eine Absage an frühere gemeinsame Überzeugungen, die Konkordanz von christlichem Glauben und neuplatonischer Philosophie betreffend. Nach dieser Gnadenlehre wählt Gott zur Errettung, wen er will. Viele sind berufen, wenige auserwählt. Wer zu welcher Gruppe gehört, das entscheidet nicht unser sittlicher oder unsittlicher Wille. Es kommt nicht auf unser Rennen und Laufen an, sondern auf die zuvorkommende Gnade, die sich uns keineswegs deshalb zuwendet, weil Gott unseren künftigen guten Willen oder unseren Glauben vorhersieht.“ (Flasch, a.a.O.) Man kann dies durchaus als die eigentliche „Wende“ bei Augustin, zumindest in seinem Denken, ansehen. In ihr justiert er das Verhältnis von biblisch-paulinischem und neuplatonisch-stoischem Elementen in seiner gedanklichen Entwicklung neu. „Die neue Gnadenlehre sprach einen Umsturz der traditionellen griechisch-philosophischen Werte aus, in dessen Konsequenz es gelegen hätte, wenn Augustin auf die ethische Gesamtkonzeption des Seienden, den anthropologischen Dualismus und die antike Schichtung von sinnlicher und intelligibler Erkenntnis verzichtet hätte. Er hätte sagen müssen, dass er nicht mehr wisse, ob vor Gott ein freies und denkendes Wesen höheren Wert hat als ein Stein. Man braucht diese Konsequenz nur auszusprechen, um zu erkennen, dass sie Augustin überhaupt nicht oder nur in zaghaften Andeutungen gezogen hat.“ (Flasch, a.a.O.) Der Willkür-Gott der „freien Gnade“, den Augustin bei Paulus gefunden hatte, der hatte in der Tat mit dem neuplatonischen Einen oder dem Nous gar nichts mehr gemein. Allerdings konnte Augustin später in anderem Zusammenhang (insbesondere der Trinitätslehre) durchaus wieder auf platonisches Gedankengut zurück greifen. Aber seine Entdeckung, seine innere Kehre, schien ihm selber so gewaltig und wichtig zu sein, dass er davon jetzt öffentlich Zeugnis ablegen wollte. Dabei verlegte er die Wende in sein „Bekehrungserlebnis“ des Sommers 386 im Garten seines Hauses in Mailand zurück. Dort hatte er offenbar wirklich ein entscheidendes Erlebnis, aber eigentlich weniger im religiös-theologischen als vielmehr im individuell-psychischen Sinn. Augustin beschreibt dies Ereignis ausführlich im achten und neunten Kapitel (Buch) seiner Konfessionen.

      1. Augustins Bekehrungserlebnis – Befreiung und Zusammenbruch

„Jetzt will ich erzählen und zum Preis deines Namens bekennen, mein Herr und Erlöser, wie du mich befreit hast von der Fessel, die mich am engsten umstrickte – von der Lust, mit einer Frau zu schlafen, und zugleich von der Sklaverei weltlicher Geschäfte.“ (Conf. B8, VI.13) Das ist die recht merkwürdige Einleitung zur Schilderung seines Bekehrungserlebnisses. Aber es fügt sich genau zu dem Leben, wie es Augustin bis dahin aus seiner späteren Sicht geführt hatte: „Ich verschob es immer, das irdische Glück zu verachten und mich ganz frei zu machen für die Suche nach der Weisheit“, die ja eigentlich mehr wert sei „als die Befriedigung üppiger Lüste des Körpers, selbst wenn sie auf einen Wink hin sich einstellten. Und ich, elend schon als junger Mann, und besonders elend in meinen ersten Jahren als junger Mann, ich hatte dich wohl schon um Keuschheit gebeten und dabei gesagt: Gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit, aber bitte nicht sofort! Ich fürchtete, du könntest mich schnell erhören und mich schnell befreien von der Krankheit der Begierde, die ich lieber auskosten als auslöschen wollte.“ (Conf. B8 VII,17) Und weiter beschreibt Augustin seine Situation sehr plastisch: „Was mich zurückhielt, das waren die nichtigen Nichtigkeiten und die eitlen Eitelkeiten, meine alten Freundinnen. Sie zerrten am Kleid meines Fleisches und flüsterten: »Schaffst du uns ab?« und: »Von diesem Augenblick an werden wir dich nie wieder besuchen, in Ewigkeit nicht«, und: »Von diesem Augenblick an darfst du dies nicht und das nicht, auf ewig«. Und wenn ich sagte »dies« oder »das« - was haben sie mir dabei wohl vorgegaukelt, mein Gott? Abhalten soll es deine Barmherzigkeit von der Seele deines Dieners. Was für einen Schmutz, was für Schanddinge suggerierten sie mir! Ich vernahm sie, aber nicht einmal mehr mit der Hälfte meines Wesens. Sie wagten nicht, mir frei zu widersprechen, wie offene Gegner; es war ein Getuschel hinter meinem Rücken, ein verstohlenes Sticheln gegen den Mann, der ging und der sich umwenden sollte. Immerhin verlangsamten sie meinen Schritt; ich zögerte, mich von ihnen loszureißen und den Sprung dorthin zu wagen, wohin ich gerufen wurde, denn die übermächtige Gewohnheit rief mir zu: »Glaubst du, es ohne all das aushalten zu können?«“ (Conf. B8 XI,26) Es könnte noch vieles mehr zitiert werden, und es ist überdeutlich: Da kämpft einer mit seiner Sexualität, mit seiner männlichen Libido. Genau sie ist das Problem Augustins.

Und dann weiter, was las Augustin, als er im Garten die Kinderstimme zu vernehmen meinte? „Tolle, lege! Tolle, lege! - Nimm und lies, nimm und lies!“ Das war nach seiner Auskunft diese Stelle im Römerbrief des Paulus (13, 13f.): „Nicht in Unzucht und im Bett, nicht in Streit und Neid, sondern zieht den Herrn Jesus Christus an und sorgt euch nicht um das Fleisch und seine Begierden.“ Wo und wann immer Augustin diese Bibelstelle vorher kennen gelernt haben mochte, sie passte sehr genau auf seine damalige innere Situation, und er bezog sie sogleich auf sich. Dass dieses Auf-sich-Beziehen ein existentieller Akt wurde, das war seine „Bekehrung“. Gotteslust ersetzte nun die Wollust: „Du warfst sie aus mir heraus, du wahre und einzige Lust, du warfst sie hinaus und tratest statt ihrer bei mir ein, süßer als alle Wollust.“ (Conf B9 I,1) Er war dem Ruf der „reinen Würde der Enthaltsamkeit“ gefolgt, den er aus seiner späteren Sicht so formulierte: „Sie lud mich ein, ohne Zögern zu kommen, und sie streckte, um mich aufzunehmen und zu umarmen, ihre gütigen Hände aus, die überquollen von der Fülle an Beispielen eines mustergültigen Lebens. Dort gab es Jungen und Mädchen, dort gab es viele junge Leute, aber auch jedes Lebensalter, ernste Witwen und alte Frauen, die ihre Jungfräulichkeit bewahrt hatten. In allen erstrahlte die Enthaltsamkeit, keineswegs unfruchtbar, sondern als Mutter vieler Söhne, gezeugt unter Freuden mit dir, Herr, ihrem Gatten.“ (Conf. B8 XI, 27) Seine Mutter ist nicht zufällig die erste, der er von seinem „freudigen“ Ereignis erzählt, dass ihre Wünsche für ihren Sohn in Erfüllung gegangen sind: „Denn du [Gott] hast mich so zu dir bekehrt, dass ich weder eine Gattin suchte noch irgend eine Hoffnung dieser Welt... Du hattest ihre [Monnicas] Trauer in Freude verwandelt, viel überschwänglicher, als sie es gewünscht hatte, eine Freude, viel wertvoller und keuscher als die, die sie erwartet hatte von Enkeln aus meinem Fleisch.“ (Conf. B8 XI,30) Nun aber sah er seine Seele endlich befreit, und „diese Welt mit ihren Lüsten versank“ (Conf. B9 X,26). Kein Zweifel, Augustin hatte ein enormes Problem im Umgang mit seiner Sexualität, die im Widerstreit lag mit seinem zölibatären Ideal. Das zeigen die Konfessionen insgesamt, und man muss kein Psychologe sein, um hier ein erhebliches neurotisches Potential zu entdecken, das sich einem während der Lektüre aus heutiger Sicht aufdrängt und umso glaubwürdiger ist, als uns Augustin in seinen „Geständnissen“ ja ganz etwas anderes vermitteln will: nämlich seine wunderbare Führung durch die Finsternisse der Lüste bis zur endlichen Aufstieg seiner Seele zur Reinheit Gottes. Insofern war sein Bekehrungserlebnis wirklich eine Art Befreiung, aber zugleich auch der Moment eines psychischen Zusammenbruchs.

      1. Die Erbsünde als Schema der Selbsterkenntnis

Augustin beschreibt in den ersten sieben Kapiteln (Büchern) der Konfessionen seinen Weg von der Geburt bis zur „Bekehrung“. Dabei beschreibt er sein früheres Leben als abgrundtief schlecht und verworfen; er gestaltet „seine eigene Sündenerkenntnis als Schema der Gnadenlehre“ (Flasch, Augustin, S. 255). Gottes Gnade habe ihn so tief sinken lassen, um ihn schließlich umso mehr zu erhöhen und zu sich zu ziehen. Insgeheim aber, so Augustin interpretierend im Rückblick, habe er immer schon die Reinheit und Nähe Gottes geahnt, sie aber verleugnet und mit aller Kraft abgelehnt. Das erkannte er nun als die Unruhe seines Herzens, die ihn um getrieben habe, und fasst es in der Einleitung in dem berühmten Satz zusammen: „Inquietum est cor nostrum donec requiescat in te – unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“ Damit war einmal die innere Ruhe gemeint, die er in der zölibatären Wende und anschließenden Taufe zu finden glaubte, mehr aber noch neuplatonisch gedacht der Aufstieg der Seele zur ewigen Weisheit Gottes, wie sie erst im Tod sich erfüllen konnte: „Bei dir ist Ruhe im höchsten Maß und leidenschaftsloses Leben.“ (Conf. B2 X,18) Bis dahin aber war es für Augustin ein langer Weg. Er schildert seine Eltern, dabei vor allen Dingen seine Mutter, der er besonders anhing, findet reichlich Worte für die Bosheit schon des Kleinkindes, das dem Geschwister die Mutterbrust neidet (vgl. Conf. B1, VII,11) und damit die uranfängliche Sündhaftigkeit des Menschen ausdrückt, wie sie seine Lehre von der Erbsünde begründet. Seine Schulzeit schildert er als eine einzige Zeit des Leidens, der Schläge und der Tränen. Lange verweilt er bei einem Kinderstreich, einem Birnendiebstahl, den er als Ausbund seiner Bosheit schildert. (Conf. B2 IV,9). So richtig böse und „elend“ wird es allerdings erst mit der Pubertät, mit dem Erwachen seiner Sexualität. Sein Vater freut sich über die Mannbarkeit seines Sohnes (Conf. B2 III,6), aber seine Mutter ist entsetzt: „Daher erzitterte meine Mutter sehr in frommer Angst und fürchtete für mich, ich könnte, wenngleich ich noch kein gläubiger Christ war, dennoch unheilvolle Wege beschreiten... erinnere ich mich daran, wie sie mich mit tiefer Besorgnis davor warnte, dass ich nicht der Unzucht verfiele und besonders nicht die Frau eines anderen zum Ehebruch verführte. Diese Warnungen hielt ich jedoch für weibisch, und ich hätte mich geschämt, ihnen nach zu kommen (Conf. B2 III,7). Ihn erfasste mit 16 „die Raserei der Libido“ (vesania libidinis), mit eigenen Worten: „Wo war ich, und wie weit verschlug es mich von den Freuden deines Hauses in jenem sechzehnten Lebensjahr meines Fleisches, als die Raserei der von menschlicher Schmach erlaubten, aufgrund deiner Gesetze aber verpönten Lust über mir das Zepter schwang und ich ihr völlig freie Hand ließ?“ (Conf. B2 II,4) Seine gesamte weiter Jugend- und Studentenzeit fällt unter dasselbe Verdikt. „Ich kam nach Karthago, und es umgab mich von allen Seiten ein tosendes Gewirr ausschweifender Leidenschaft. … So besudelte ich die Quellader der Freundschaft mit dem Schmutz der Begierde, verdunkelte ihren Glanz mit der schrecklichen Finsternis der Lust, und doch trachtete ich trotz meiner Hässlichkeit und Unsittlichkeit in meiner übermäßigen Eitelkeit inständig danach, feinsinnig und gebildet zu erscheinen. So stürzte ich mich denn auch in die Leidenschaft, voll Begier nach ihrer Fessel.“ (Conf. B3 I,1) All dies aber, bekennt der von allen Lastern Bekehrte, war letztlich seine verborgene und verkehrte Suche nach der Wahrheit Gottes: „Weil ich auf Leidenschaft brannte, suchte ich nach einem Gegenstand dieser Leidenschaft, und ich hasste sicheren Lebenswandel ohne Fallstricke; denn innen verspürte ich Hunger nach innerer Speise, eben nach dir, mein Gott“ (Conf. ebd.). So diente ihm sein eigenes Leben als bestes Beispiel seiner eigenen Sünden- und Gnadenlehre. Er war boshaft und verloren an die sexuelle Begierde, konnte nichts dagegen tun, bis Gott selbst ihn rettete und befreite, in der endgültigen „Reinigung“ seiner Seele in der Taufe (vgl. Conf. B1 XI,17). Es fällt einem bei der Lektüre der Konfessionen immer wieder als etwas befremdlich auf, wie stark Augustin seine Entwicklung hinsichtlich seiner Verdorbenheit und seiner Rettung und Reinigung am Sexuellen festmacht. Seine gesamte Spiegelung der Seele in den Bekenntnissen wird so zu einem Ringen zwischen dem Ideal der Reinheit und Keuschheit und den sexuellen Bedürfnissen in den Sinnesfreuden seines täglichen Lebens. Das muss seine Gründe haben.

      1. Bekehrung als Überwindung der Sexualität

Das Bild, das Augustin in den Konfessionen von sich selbst entwirft, ist schon erstaunlich und aus heutiger Sicht ziemlich entlarvend. Er zeichnet ein Bild seiner Zerrissenheit als ein Exempel des Weges von der Sünde zur Gnade, von der Verdorbenheit zur Reinigung der Seele, bleibt dabei aber in seinen eigenen inneren Problemen hängen, die ihm offenbar so nicht bewusst sind. Genau dies macht den Text unfreiwillig so aufschlussreich. „Vor allem hat Augustin das Bewusstsein menschlicher Zerrissenheit einseitig auf die Sexualität konzentriert. Fragt man nach dem Grund dieser Verschiebung, so legen Augustins Bekenntnisse, Confessiones, psychologische und psychoanalytische Erklärungen nahe.“ Dabei ist aber einzuschränken, „dass die psychoanalytische Erklärung weder die philosophische Erörterung noch das historische Verstehen ersetzen kann.“ (Flasch, Augustin, S. 230) Kurt Flasch gelingt es in seiner Darstellung und Bewertung Augustins in eindrücklicher Weise, die sachlich-thematischer Erörterung des Denkens Augustins mit einer psychologischen Interpretation seiner Persönlichkeit, soweit uns diese von Augustin selber offen gelegt wird, zu verbinden. Dies ist in seinem Augustin-Buch detailliert nach zu lesen (vgl. besonders S. 232 - 254). Ich beschränke mich auf eine knappe Skizze.

Augustin hatte ohne Zweifel eine extrem ausgeprägte Mutterbindung. Monnica („was für eine Mutter!“) ist immer wieder sein Bezugspunkt gleichsam als Stellvertreterin Gottes, zumindest als sein Werkzeug („Denn sie strengte alles an, dass du, mein Gott, mir Vater sein solltest, mehr als er [Patricius], und du standest ihr bei, mehr Einfluss zu bekommen als ihr Mann, dem sie diente, weil sie die Bessere war.“ Conf. B1 XI,17) „Vieles im jungen Augustin bewegte ihn, sich mit diesem Vater zu identifizieren. Aber das verhinderte Monnica, die, von ihrer Ehe enttäuscht, den Jungen an sich band, auf jedes sexuelle Verhalten des Jungen mit Entsetzen reagierte und ihn so in einen unlösbaren Konflikt stürzte.“ (Flasch, a.a.O. S. 246) Der Jugendliche ist allerdings hin und her gerissen zwischen Mutterbindung und Selbständigkeit. Eine Zeitlang gelingt es Augustin, sich ein Stück weit von seiner Mutter zu befreien, vor allem während seines Studiums und seiner Lehrzeit in Karthago. Dementsprechend ist diese Zeit später für ihn die finsterste. Er geht eine Beziehung ein, hat ein Kind, wird nicht Christ wie seine Mutter, sondern Manichäer, ja versucht, Monnica auch zum Manichäismus zu bekehren. Das ist zu viel des Guten, und sie wirft ihn hinaus – nicht lange, denn sie kann ohne ihn nicht leben und nimmt ihren Sohn bald wieder bei sich auf. Augustin aber flieht, flieht nach dem mythischen Vorbild des Aeneas und seiner Dido (vgl. Flasch, Augustin, S. 244f.), vor seiner Mutter verheimlicht, nach Rom und Mailand. Flasch kommentiert: „Der Ausweg wäre ein narzistisch besetzter maskuliner Protest, eine Identifikation mit der eher rücksichtslosen Sexualität des Vaters gewesen: Abreisen wie einst Äneas. Daher die Anziehungskraft dieser Szene: Afrika war Dido und war Monnica. Der Junge sah für sich eine große Bestimmung, in Rom; für Dido hatte er Tränen - Tränen der Frustration und der Schuldgefühle gegen die Mutter. Aber sich zu seinem heidnischen Vaterideal zu bekennen, war für den jungen Augustin so gut wie unmöglich; das widersprach dem mütterlichen Über-Ich, das keine instinktive Regung gegen sich duldete. Daher musste der Vater heruntergesetzt werden - die Confessiones führen dies konsequent durch.“ (Flasch, a.a.O.) Dido bringt sich der Sage nach vor Trauer um – Monnica aber reist ihrem Sohn bald nach. Als Augustinus dann nach Mailand berufen wird und während dieser Zeit erkrankt, reist Monnica ihm wiederum nach Mailand nach. Diesmal kann Augustin nicht mehr widerstehen, und er nimmt sie bei sich auf und lässt seinen Haushalt von ihr führen. Nun folgen die angeblichen Ehepläne Monnicas für ihren Sohn, die den Anlass liefern, die Nebenbuhlerin, Augustins Lebensgefährtin, „weg zu schicken“ und, da die ausgewählte Braut noch zu jung ist, ihr zwei weitere Jahre Zeit zu geben, ihren Sohn für sich zu haben und zur Ehelosigkeit zu 'bekehren'. Aber es brauchte nur ein Jahr. Darum ist es auch „natürlich“ Monnica, die als erste von Augustins Entschluss im Garten erfährt, nun bereit für die sexuelle Enthaltsamkeit zu sein und als getaufter Christ ganz für Gott leben zu wollen. Augustin war krank in dieser Zeit. Er schreibt von heftigem Brustschmerzen, einem Stechen, das ihn kaum mehr zum Sprechen befähigte, - das körperliche Zeichen seiner Krise. Und so kommt es zu der Wende, die er später als „Bekehrung“ interpretiert, die aber im Grunde die endgültige Niederlage gegenüber seiner Mutter bedeutet: „Der Konflikt endete mit der »Bekehrung«, mit der Übernahme des christlichen Plotinismus und mit der Annahme des enthaltsamen Lebens: Monnica hatte gesiegt. Für die nächsten Jahre wurde ihre afrikanisch-abergläubische Art des Christentums zurückgedrängt durch die neu entdeckten »platonischen Bücher«, die aber in der Forderung nach Enthaltsamkeit mit der Mutter übereinstimmten. So fiel es dem Intellektuellen leichter, den von der Mutter für ihre Zuwendung geforderten Preis zu zahlen: Christentum und Verzicht auf die Frau.“ Und Flasch fährt fort: „Es scheint, als habe Augustin in den neunziger Jahren seinen sexuell bestimmten Willen zunehmend als unbeugsamen Widerstand erfahren, und er habe dann gefolgert: Der menschliche Wille ist nicht imstande, die Enthaltsamkeit und damit das Heil zu sichern. Da wir an der Gerechtigkeit Gottes nicht zweifeln dürfen, müssen wir dieses ungeheure Defizit als Strafe für die Erbschuld deuten.“ (Flasch, a.a.O. S. 248f.)

      1. Der ödipale Komplex

Kurz vor seiner Heimkehr nach Nordafrika kommt es in der Hafenstadt Ostia zu einem weiteren denkwürdigen Erlebnis, das dem Tod seiner Mutter voraus geht. Mutter und Sohn sind vereint und glücklich – mit Augustins eigenen Worten: „.[Da] geschah es, und ich glaube, dass du auf verborgenen Wegen dafür gesorgt hast, dass sie und ich allein an ein Fenster gelehnt standen, von wo aus man auf den Garten blickte, der zu dem Hause gehörte, in dem wir wohnten, dort in Ostia an der Tibermündung, wo wir, fern allem Gedränge, nach der Mühsal der langen Reise uns für die Überfahrt erholten. Wir unterhielten uns also allein, glücklich vertraulich, und vergaßen das Vergangene und spannten uns aus auf das, was vor uns lag. Die Wahrheit selbst, die du bist, war anwesend, und wir fragten uns, wie das künftige ewige Leben der Heiligen sei, das kein Auge je gesehen, kein Ohr je gehört hat und das in keines Menschen Herz gedrungen ist. … Als unsere Unterhaltung zu dem Ergebnis kam, fleischliche Sinnesgenüsse, wie groß sie seien und in welchem körperlichen Glanz auch immer sie erstrahlten, duldeten mit der Freude jenes Lebens nicht nur keinen Vergleich, sondern seien nicht einmal der Erwähnung wert, da richteten wir uns in noch glühenderem Verlangen nach ihm auf und durchwanderten dabei alle körperlichen Stufen, auch den Himmel, von dem aus Sonne, Mond und Sterne die Erde beleuchten. Und noch höher stiegen wir, in stillem Nachdenken, im Gespräch, beim Bewundern deiner Werke. Und wir kamen zu unseren Geistseelen und überstiegen auch sie, um die Region nie versagenden Überflusses zu berühren, wo du Israel auf ewig weidest auf der Wiese der Wahrheit. Und sieh, während wir sprechen und uns hinauf sehnen, berühren wir diese Weisheit ein wenig mit dem ganzen Aufzucken unseres Herzens. Wir stöhnten und ließen dort gebunden zurück die Erstlinge des Geistes. Dann wandten wir uns wieder dem Geräusch unserer Rede zu...“ (B9, X.23/24) Flasch interpretiert diese Stelle nicht nur als eine Art Vision, sondern als ein ausgezeichnetes Beispiel neuplatonischer Kontemplation, die zum Berühren (attigimus) des Nous führt. - Man kann darin aber auch das poetisch umschriebene Bild einer sexuellen Vereinigung mit seiner Mutter heraus lesen: das „Aufzucken“, das beide durchfährt, „wir stöhnten“, nun ja. Es war der Todestag von Monnica. Augustin stellt fast dramatisch das Zum-Ziele-Kommen all seines Sehnens dar: die Vereinigung mit Gott fällt mit der Vereinigung mit seiner Mutter in eins. Sie sollte übrigens auf eigenen Wunsch nicht an der Seite ihres Mannes beerdigt werden.

Flasch fasst zusammen: „Augustin stützte die Tendenz, geistiges und christliches Leben mit dem Zölibat zu identifizieren. … [Das war] ohne rigorose Selbstzucht nicht durchzuhalten“, und schließt: „Im 20. Jahrhundert muss man die Frage stellen, ob nicht aus der Mutterbindung Augustins und aus seiner rigorosen Sexualethik die paradoxe Verbindung von [neuplatonischem] Weisheitsstreben, Gottesliebe und Streitsucht entstand, die ihn charakterisierte und die die geistige Physiognomie zölibatärer Theologen der Folgezeiten prägte.“ (Flasch, a.a.0. S. 254) Noch mehr hat der ödipale Komplex des Augustinus nicht allein seine Theologie und Kirchenpraxis als Bischof nachhaltig geprägt, diese hoch neurotische Persönlichkeit war auch für eine Entwicklung in den Lehren von Erbsünde und Schuld, von der Seele und ihrer Reinigung verantwortlich, die das geistig-geistliche Leben für Jahrhunderte geprägt hat, die Sexualfeindlichkeit der christlichen Kirchen begründet und zu unendlich viel Leid durch Verdrängen und heimliches „sündhaftes“ Ausleben eigener Sexualität geführt hat. Auch die Betrachtungen der eigenen Seele waren einseitig auf das sexuelle Verderben gerichtet, was letztlich zu seiner Form des Sexismus geführt hat, die Sexualität im eigenen Erleben nur negieren konnte. Wollte man im Rahmen einer Psychologie, also einer sachorientierten Erforschung des Seelenlebens, auch wieder ausdrücklich über Seelisches reden, so musste man zu einem gänzlichen Neueinsatz dessen kommen, was man einmal mit „Seele“ bezeichnet hat. Der Begriff war durch Augustin psychologisch so besetzt, man könnte sagen, durch einen neurotischen Sexismus vergiftet worden, so dass er nur in anderer Form, als Ich, als Selbst, als Subjekt wieder gewonnen werden konnte.



    1. Befreiung und Heilung der zerrissenen Seele - Augustin und die Folgen

Deum et animam scire cupio. Nihilne plus? nihil omnino – Gott und die Seele will ich erkennen, sonst nichts.“ So hatte Augustin in den Soliloquien (I 2,7) kurze Zeit nach seiner Wende formuliert. Aber so wie sein Begriff Gottes geprägt war von einem platonisch-neuplatonischen Verständnis, nämlich als oberstes geistiges Prinzip, das Weisheit, Wahrheit und Glückseligkeit beinhaltete, so verstand er auch „Seele“ im griechisch-philosophischen Sinn, nämlich als Lebensprinzip überhaupt. Dieser Satz ist also keineswegs im Sinne einer frommen Innerlichkeit des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Augustin will wissen. Seele bedeutet zugleich das konkrete eigene Lebendigsein, steht also für „Ich“. Die höchste Weisheit und das eigene Leben, das „Ich“ in Bezug auf diese höchste Wahrheit wollte Augustin erkennen und wissen (berühren), und dies Erkennen sollte ein Lebensvollzug sein. Insofern blieb Augustin im Rahmen des Denkens seiner Zeit, wie auch sonst. Selbst in seiner Trinitätslehre, die zu seinem Spätwerk gehört, bleibt die Begrifflichkeit nahe am Platonismus. Die Hypostasenlehre der griechisch-orthodoxen Dogmatik (insbesondere der drei Kappadokier Gregor von Nyssa, Basilius von Cäsarea und Gregor von Nazianz) ist ihm weitgehend fremd. Augustin denkt den Begriff Gottes in der Nachfolge Plotins stärker monistisch, ja man hat ihn als Begründer der Bewusstseinstheologie bezeichnet, wiewohl er hier nur seinem Lehrer Plotin folgt. Die oberste Wirklichkeit der Gottheit bildet sich ab (Plotin sprach von Emanation, was Augustin vermied) in der geistigen Welt, vor allem aber im menschlichen Geist. Wenn dieser Geist sich selbst betrachtet, also sich seiner selbst bewusst ist, dann realisiert er in sich selbst ein trinitarische Abbild im Sinne von memoria, intelligentia, voluntas, von Gedächtnis, Einsicht und Wille. Auch die Einheit von Liebendem, Geliebtem und der Liebe selbst gilt ihm als trinitarisches Urbild. Dies zeigt, wie stark Augustin hier dem Denken Plotins folgt und die Trinität nicht substanziell, sondern als lebendigen Prozess des göttlichen Geistes in sich selber denkt. Mit dieser im Gegensatz zur Ostkirche stärker monistisch interpretierten Trinitätslehre in lateinischer Begrifflichkeit hat er die abendländisch-christliche Theologie geprägt.

In gleicher Weise folgt Augustin dem neuplatonischen Denken im Verständnis des Bösen. Im völliger Übereinstimmung mit dem Neuplatonismus ist es für ihn negativ bestimmt als Abwesenheit des Guten. Genau dies entspricht seiner anti-dualistischen Abkehr vom Manichäismus. Das Böse ist kein eigenständiges Prinzip neben Gott oder gegen Gott, sondern die Abwesenheit Gottes, die Gottesferne. Auch hier folgt Augustin dem strikten Monismus Plotins. Auf der anderen Seite ist seine Ablehnung des „Fleisches“ (in Überbetonung des Paulus) so stark, dass er durchaus Anknüpfung für ein dualistisches Verständnis bot. Wenn man außerdem bedenkt, dass Augustin erstmals in seiner Lehre von der Erbsünde den sexuellen Akt der Zeugung als individuellen Ursprung der ererbten Sünde ansah und damit die paulinische Adam – Christus – Typologie (in Adam haben alle gesündigt – in Christus können alle errettet werden, Röm. 5/6) naturalistisch (und insofern stoisch) interpretierte und die Vermittlung der Sünde 'sexistisch' an den Akt der Zeugung band, dann läuft das praktisch auf ein dualistisches Verständnis hinaus. Hier kann sich Augustin von der früheren Faszination des Manichäismus nie ganz lösen; er musste ihn auch zeitlebens polemisch bekämpfen. Seine Nähe zu mystischen Erlebnissen, wie es sie im Raum der Gnosis häufig gab mit sehr naturalistischen Jenseits-Vorstellungen, deren bildhafte Symbolkraft bei Augustin oft in biblischer Sprache recht realistisch erscheint (vgl. De Civitate Dei), wurde schon bei der Beschreibung des verklärten Unio-Erlebnisses mit seiner Mutter in Ostia erwähnt. Es bleibt bei Augustin die Spannung zwischen all seinen Entwicklungsphasen ein Leben lang bestehen. Da ist der von Cicero begeisterte Entdecker der Liebe zur Philosophie, der manichäische Eiferer und Mystagoge, der neuplatonisch geschulte Denker, der biblische Exeget, der zwischen Glaubensrealismus und Allegorese schwankt, der leidenschaftliche Kirchenmann, der stets auf der Seite der römischen Mehrheitskirche alles in Grund und Boden redet und schreibt, was er an sektiererischen Gefahren zu sehen meint, der junge Libertinist und der freudlose, streit- und herrschsüchtige Bischof, den seine eigene Schwäche verbittert. Dem entspricht letztlich ein Gottesbild, das von Sünde und Strafe geprägt ist, an dessen Gnadenerweis man nur unwürdig und unverdient appellieren kann, weil er als Willkür-Gott frei ist anzunehmen und zu verwerfen, wen er will.

Diese übergroße Spannung in der Persönlichkeit Augustins macht offenbar gerade seine Faszination aus. Darum gehören seine Konfessionen auch zu den meist gelesenen Schriften dieses „Kirchenvaters“. Als spiegele sich in der Hinwendung zu Gott als eigentlichem Vater und einer 'Gottesminne', die sich im Bild der Seele als Braut und Gottes als Bräutigam ausdrückt, und gleichzeitig ein Zurückgeworfen- und Abgestoßenwerden durch einen Gott, dessen Gerechtigkeit unerreichbar ist und unverstanden bleiben muss, weil sie der Willkür seiner Gnade unterliegt, - als spiegele sich hierin noch einmal der seelische Konflikt eines Mannes, der seinen leiblichen Vater ablehnen und seine Mutter lieben und ihr im Verzicht auf Ehe und Sexualität gehorsam sein musste. Die Seele Augustin war zerrissen („Zwei Willen stritten in mir, der geisthafte gegen den fleischlichen. Ihr Zwist zerriss meine Seele.“ Conf. B8 V,10), und diese Zerrissenheit dokumentierte er vor aller Augen. Seine Lehre von der Seele, was immer er philosophisch dazu geschrieben und gedacht hat, war praktisch der Versuch der Lebensbewältigung „tiefster Zerrissenheit“. „Das Denken Augustins war das, was Hegel 'das unglückliche Bewusstsein' nannte.“ (Flasch, a.a.O. S. 304) Diese Zerrissenheit hat er seiner Nachwelt ins Fleisch gebrannt, neben all den großen und tröstlichen Gedanken, die es bei Augustin auch zu lesen gibt. Es ist die Zerrissenheit einer Seele, die zwischen Himmel und Erde aufgehängt ist, zwischen Gut und Böse, Sünde und Gnade, Tod und Leben, die den natürlichen Menschen unbedingt abwerten und schlecht machen muss, um Gott groß machen zu können. Diese Zerrissenheit wurde zum Prinzip: Nicht das ungebrochene Selbstbewusstsein gilt es empor zu heben, sondern den Bruch, die Schuld gilt es zu markieren, die den Menschen auf ewig vom Guten trennt. Das sollten seine Konfessionen exemplarisch darstellen. Man hat dies zu Recht einen neuen „christlich-negativen Begriff von Humanität“ genannt (vgl. Flasch, a.a.O. S. 260); er prägte Jahrhunderte.

Der Begriff der Seele musste völlig neu definiert, umgeformt, in andere Begriffe übersetzt werden, um aus dieser Zerrissenheit und Gebrochenheit wieder heraus zu kommen. Das Erbe Augustins ist gewaltig. Es bedurfte eines denkerischen Neuansatzes, um wieder zu einem positiven Verständnis des Selbst, des Ich, der Subjektivität zu gelangen. Bis heute kann man das Wort 'Seele' als exakten Begriff kaum unbefangen gebrauchen. Die katholische Kirche und Dogmatik hält an dem augustinischen Verständnis wesentlich zölibatär sich verwirklichender Christlichkeit gnadenlos fest bis auf diesen Tag unter Einschluss all der Konsequenzen, die die Missbrauchsfälle offen gelegt haben. Aber auch der lutherische und calvinistische Protestantismus war nicht frei von der augustinischen Gebrochenheit der Seele. Nach der Reinigung, wie sie Augustin verstand, ist eine neue „Reinigung“ erforderlich, soll der Begriff der Seele heute überhaupt wieder einen Sinn gewinnen.





  1. Die Entdeckung des Selbstbewusstseins



Wir überspringen einen großen Zeitraum, in welchem das augustinisch-neuplatonische Verständnis der menschlichen Seele ergänzt und überformt wurde durch die Entdeckung des 'ganzen' Aristoteles im Verlauf des 12. Jahrhunderts. Mit der Metaphysik des Aristoteles und insbesondere seiner Schrift „De Anima“ (damals erstmals in lateinischer Übersetzung zugänglich) gelangte eine neues, konkreteres und, man könnte fast sagen, 'realistischeres' Verständnis der Seele in das abendländische Denken. Im Thomismus als der kirchlich-philosophischen „Normallehre“ des Hochmittelalters verbanden sich augustinische Inhalte mit aristotelischen Methoden, wobei diese letzteren auch die aristotelische Metaphysik selber mit sich brachten. Hier wurden erste Möglichkeiten eines neuen Denkens geschaffen, die sich in den verschiedenen großen Streitfragen der Scholastik (Nominalismus – Realismus; Rationalismus – Mystik; Willensfreiheit – Prädestination) ausdrückten, die wiederum direkt in den Humanismus der Renaissance einmündeten. Schon mit dem 15. Jahrhundert machte sich ein Denken bemerkbar, das nicht mehr ohne weiteres auf den „alten“ Grundlagen aufbauen wollte oder konnte. Dies führte nun auch zu einem erneuten Denken dessen, was ehedem mit dem Begriff der Seele abgedeckt war. Unter der Überschrift „Seele im Wandel“ beschreibt Ursula Renz die Lage so: Es werden „gleich zwei für die heutige Diskussion wichtige Weichenstellungen vorgenommen: Die Seele wird zugunsten des Geistes verdrängt, und es werden mit wissenschaftlichem Anspruch auftretende Emotionstheorien entwickelt, die neue Erklärungsansätze für psychische Phänomene bereit halten.“ (U. Renz, in: Über die Seele (st), S. 133) Den Weg dorthin markiert entscheidend René Descartes.



    1. René Descartes' 'denkendes Etwas'

Descartes Trennung der Erkenntnisbereiche der Welt in res cogitans ('denkendes Etwas') und res extensa ('ausgedehntes Etwas') war grundstürzend. Auf der einen Seite steht nun das denkende Ich, das sich genau im Akt dieses Denkens gewiss ist, dass „Ich“ es ist, der denkt. Auf der anderen Seite steht der gesamte Rest, alles, was von diesem reinen Denkakt des Ichs verschieden, ihm 'äußerlich' ist: die Welt der Dinge, der (eigene) Körper, die äußere Welt, die nun zur Welt der 'Gegenstände' wird, nämlich zum Gegenstand des Denkens. Das Denken vollzieht im Menschen aber der Geist, mens, er ist die „res cogitans“, grundsätzlich unterschieden von den anderen „res extensa“, den ausgedehnten Dingen. In diesem Zusammenhang spielt die Seele keine Rolle. Ihr kommt bei Descartes allenfalls die Aufgabe zu, die Emotionen zu kontrollieren, sofern sie den Angelpunkt der wechselseitigen Beeinflussung von Körper und Geist kennzeichnet. Dies ist nun allerdings ein völlig neuer Ort und eine gänzlich neue Funktion der Seele. Sie gehört dann tatsächlich für Descartes auch in den großen Bereich der res extensa, der Körperlichkeit. Er wollte sie in der Zirbeldrüse verankert sehen. Für das denkende Ich, das allein in den Mittelpunkt des Interesses rückt, besteht nun aber das Problem, das 'Drinnen' und 'Draußen', die innere, ungegenständliche Welt des reinen Denkens, also des Geistes, mit der Welt da draußen, den Körpern und Dingen, welche die Sinne erfassen, zu verbinden. Hier kommt es bei Descartes zu einer weiteren folgenreichen Neukonzeption. Er formuliert hier erstmals das, was dann begrifflich in der ihm folgenden Neuzeit einen Siegeszug angetreten hat: den Begriff der „mentalen Repräsentation“. (vgl. zum Folgenden A. Kemmerling, Die erste moderne Konzeption mentaler Repräsentation, in: Seele – Denken – Bewusstsein, S. 167ff.) Descartes gebraucht hierfür den Begriff idea, spricht aber auch von repraesentatio mentis. Dieser Begriff von „Idee“ beschreibt bei ihm eine reine Denkstruktur; Idee ist dasjenige, was im Denken dem äußeren Gegenstand entspricht. Darum sind Descartes Ideen naturgemäß nicht physisch, nicht materiell im Einzelding verwirklicht, sondern bleiben reine Inhalte des Geistes, seine unmittelbaren internen Objekte. „Der Dom ist im Kopf“ spottete John Locke, der mit der Objektivität der Ideen im Denken Descartes' schon gar nichts mehr anfangen konnte (vgl. Kemmerling, a.a.O. S. 194).

Der Ansatz von Descartes ist für die Neuzeit wegweisend dadurch, dass er eine neue Art des Dualismus begründet (oder den alten Dualismus in neuer Gestalt wiederholt), nämlich die Zweiteilung der Welt in Denken (Geist) und äußere Gegenstände (Materie). Die Seele ist nicht mehr als Lebensprinzip gedacht, sondern allenfalls als der Teil des Geistes, der von den Sinneseindrücken affiziert ist und sie bewertet (vgl. Eva Maria Engelen, Die leidenschaftliche Seele bei René Descartes, in: Über die Seele (st), S. 117). Im Grunde wird hier schon „Seele“ in den Begriff des Geistes, des Mentalen, aufgelöst. Pierre Gassendi, Descartes Zeitgenosse, kommentiert dies recht bissig: „Hier erkenne ich an, dass ich halluziniert habe. Ich war nämlich der Meinung, ich spräche mit einer menschlichen Seele oder mit jenem inneren Prinzip, durch das der Mensch lebt, fühlt, sich fortbewegt, erkennt; doch ich habe mit einem bloßen Geist gesprochen, der nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele abgestreift hat.“ (zit. nach U. Renz, a.a.O., S. 135)

Der menschliche Geist, seine Ratio, wird zum Ort der Freiheit und zur Begründung der geistigen Autonomie. Das denkende Subjekt wird nun zum Inbegriff des Menschen, seine Subjektivität konstituiert seine Person. Für das Seelische bleibt kaum mehr etwas übrig, was nicht durch die Begriffe der Emotionalität bzw. der sinnlich vermittelten Affektivität ausgedrückt werden könnte. Der Psychologie, die sich nun diesem Bereich des Affektiv-Emotionalen mit naturwissenschaftlichen Methoden zuwendet, hat eigentlich ihren ursprünglichen Gegenstand, die Seele = Psyche, verloren. Das Wort Seele taugt nicht mehr als wissenschaftlicher Begriff. Wird das Psychische im Unterschied zum Rationalen nunmehr dem Bereich des Emotionalen zugewiesen, so kann man diesem mit naturwissenschaftlichen Methoden zu Leibe rücken (im wahrsten Sinne des Wortes) und diese affektive Basis des Menschen zum Beispiel im Limbischen System verorten. Wenn dann noch gestritten wird, dann geht es eigentlich nicht mehr um den Menschen als 'geistiges Wesen' (allein schon diese Worte klingen nur noch nebulös), sondern um die Gegenpole von Geist und Natur, Mentalem und Psychisch-Physischem. Die möglichen Konfliktlinien der heutigen Diskussion um die Hirnforschung, um Ethik und „freien Willen“, zeichnen sich hier schon ab. Aber zuvor nahm der Begriff des Mentalen, des Geistes (mens) noch eine besondere, gewissermaßen 'subjektivistische' Wende.



    1. Ich, Selbst, Bewusstsein bei David Hume

Es war David Hume, der in seinem berühmten Werk Treatise of Human Nature (1739/40) einen Entwurf über die Beschaffenheit und Erkenntnisfähigkeit des Menschen vorgelegt hat, der noch einmal über Descartes hinaus schritt. Innerhalb der später „Geschichte der Philosophie des Geistes“ genannten Disziplin belegt Hume die Abteilung „Sensualismus“ oder „empirischer Rationalismus“. Aber einmal abgesehen von dieser üblichen Schublade hat David Hume eigentlich nur konsequent weiter gedacht und Linien in bestimmter Richtung aus gezogen, die vorher durch Spinoza, Descartes, John Locke und anderen schon aufgewiesen waren. Hatte John Locke das Selbst (self) als Mitte der personalen Identität festgestellt, das sich als Selbst-Bewusstsein über die Veränderungen des Körpers, der Emotionen und der Sinneswahrnehmungen persistent als ein und dasselbe durchhält und damit das „Ich“ konstituiert, so nimmt Hume zwar ebenfalls seinen Ausgang beim Selbst, verbindet dieses aber unauflöslich mit den Wahrnehmungen (perceptions). Strikt gegen Descartes' Dualismus von res cogitans und res extensa gerichtet formuliert Hume seine These, dass das Selbst sich nur und ausschließlich durch Wahrnehmungen und Eindrücke konstituiert; habe ich keine Wahrnehmungen mehr, habe ich auch kein Bewusstsein meiner Selbst und bin tot. Ein persistentes Ich wie bei John Locke lehnt er als reine Phantasie ab. Er erklärt dies mit dem Gleichnis vom Theater: „Der Geist ist eine Art von Theater, in dem verschiedene Wahrnehmungen nacheinander auftreten, vorbeigehen, zurückkommen, fortgleiten und sich in eine unendliche Vielfalt von Stellungen und Situationen vermengen. Es gibt hier im eigentlichen Sinne des Wortes keine Einfachheit in einer oder Identität in verschiedenen Zeiten, so sehr wir auch die natürliche Neigung haben mögen, uns diese Einfachheit und Identität einzubilden. Der Vergleich mit einem Theater darf uns nicht in die Irre führen. Die aufeinanderfolgenden Wahrnehmungen allein konstituieren den Geist, während wir nicht den entferntesten Begriff von dem Ort haben, wo sich diese Szenen abspielen, noch von dem Material, aus dem er beschaffen ist.“ (zit. nach Heiner Klemme, Selbst ohne Seele, in: Über die Seele, S. 166) Auch Hume spricht noch von „Ideen“, aber es sind bei ihm rein subjektive Gedankengebilde, die sich von den Eindrücken der Sinneswahrnehmungen ableiten: „Humes Auffassung nach sind dem menschlichen Geist immer nur Wahrnehmungen (perceptions) präsent. Eine Wahrnehmung zu haben und sich ihrer bewusst zu sein ist für ihn dasselbe. Ein Bewusstsein 'an sich' gibt es nicht. Die wichtigste Unterscheidung, die Hume innerhalb des Wahrnehmungsbegriffs trifft, ist die zwischen Eindrücken (impressions) und Ideen (ideas). Eindrücke sind ursprüngliche, distinkte oder gesonderte Existenzen, die keine ihnen zugrunde liegenden Gegenstände oder Qualitäten repräsentieren. Sie verweisen nicht über sich selbst hinaus und entstammen entweder den äußeren Sinneswahrnehmungen (sensations) oder der Selbstwahrnehmung (reflexion). Im letzteren Falle spricht Hume von Leidenschaften (passions), Empfindungen (sentiments), Gefühlen (feelings) oder Affekten (affections). Eindrücke unterscheiden sich aufgrund ihrer Lebendigkeit und Stärke von ihren Abbildern, die er Ideen nennt. Weil Ideen von Eindrücken abgeleitet (deriv'd) sind, können sie niemals Eigenschaften repräsentieren, die sich nicht in oder an den ihnen vorhergehenden Eindrücken finden.“ (a.a.O. S. 155f.) Damit sind Humes „Ideen“ mentale Repräsentanzen zweiter Ordnung, die von ursprünglichen, sinnlich vermitteltem Eindrücken des Geistes abgeleitet sind, - memoria hätte man früher gesagt. Der Begriff Idee nähert sich in seiner Unschärfe und Allgemeinheit nun schon stark dem Verständnis an, das wir heute umgangssprachlich haben, wenn wir von einer Idee, einem „Einfall“ sprechen, denn der Einfall hat seine Ursache in vorher gehenden Eindrücken und Erfahrungen. Stiften aber nun die Eindrücke aufgrund von Affekten und Gefühlen jeweils eigene „Identitäten“, so wird auch eine durchgehende Ich-Identität zur reinen Fiktion. Genau dies ist auch die skeptische Schlussfolgerung Humes; der Begriff der personalen Identität hat für ihn keinen „genauen Maßstab“ mehr (a.a.O. S. 170). Das Selbst und sein Bewusstsein verliert sich hier in eine Ansammlung von Wahrnehmungen, Eindrücken und Ein-'bildungen', die keine gesicherte Erkenntnis, schon gar nicht die einer 'objektiven Wahrheit' mehr zulassen. (vgl. dazu die kritische Analyse der „Rede von dem Ich und von dem Selbst“ durch Ansgar Beckermann, in: Über die Seele, S. 458 ff.) Hier werden diejenigen Denkmodelle und wissenschaftlichen Disziplinen neu ansetzen, die wir heute Kognitionswissenschaften nennen, indem sie uns in einer Theorie des mentalen Selbst (theory of mind) zu einer neuen Beschreibung unserer Erkenntnisfähigkeit führen. Die „Seele“ hat hier überhaupt keine heuristische Funktion mehr; wenn überhaupt gehört das Reden über die 'Psyche' in einen wissenschaftlichen Bereich, den wir heute als experimentelle Psychologie oder (wissenschaftlich durchaus umstritten) als Psychoanalyse kennen.



    1. Übergänge: Von der Romantik zum wissenschaftlichen Naturalismus

Und wieder wage ich einen größeren Zeitsprung, weniger weil die nächsten drei Jahrhunderte nun etwa gar nichts mehr zur Seele zu sagen gewusst hätten, aber doch mit gutem Gewissen deswegen, weil es jedenfalls nicht der Hauptstrom der Entwicklung war. Von Kant über Hegel bis zu Husserl, Heidegger und Wittgenstein wurde das menschliche Denken entweder auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis befragt (Transzendentalphilosophie) oder die Selbstentfaltung des absoluten Geistes im Denken des Absoluten beschworen (Philosophie des absoluten Geistes) oder die Welt des Geistes phänomenologisch oder analytisch beschrieben oder die Zeitlichkeit des Seins in der Bewältigung des Nichts thematisiert – man sieht schon an diesen thematischen Stichworten, dass da nicht viel Raum war für eine Neubesinnung auf das Seelische. Dies könnte man am ehesten in der Romantik vermuten, die immerhin die reine Innerlichkeit zum Thema hatte und dieses in einer ausgesprochen anti-rationalistischen Stoßrichtung zu verwirklichen suchte. Aber was dann dort zum Vorschein kam, war mehr das Gemüt, das nun als spezifischer Ort des Seelenlebens gefunden wurde, in schlichter Einfalt und stiller Größe. Oder es fand sich, sieh da, auf religiöser Seite insbesondere des Protestantismus, das Lob der 'frommen Seele', was nun auch ausdrücklich den Verzicht auf das Denken bedeutete und nur noch anti-modernistisch die Einfalt verklärte. Aber selbst theologisch anspruchsvolle Entwürfe wie der des Berliner Hofpredigers Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher fand als Ort der religiösen Betätigung weder den Geist noch das Tun, sondern das Gemüt, das sich im „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ der „Anschauung des Universums“ widmet. Auch dies ist eine Interpretation der Seele, wenn man so will, und zwar in klarer Ablehnung des geistlichen (!) Bereichs als eines nur 'mentalen Phänomens', wie man heute sagen würde, aber eben doch in typisch neuzeitlicher Zuspitzung auf die Subjektivität, die nun im Gemüt einen eigenen Bereich im Menschen für sich reklamiert, der weder der räsonierenden Vernunft noch dem pragmatisch-naturalistischen Zugriff ausgesetzt sein soll. Ein großartiger Versuch, ein faszinierendes theologisches System, aber es konnte sich nicht nachhaltig durchsetzten. Eigentlich hat sich erst mit der modernen Psychoanalyse vor allem durch Sigmund Freud, wie umstritten und kritisiert auch immer, das Thema „Seele“ und ihre Deformationen machtvoll zurück gemeldet. Aber auch das war nur ein Pendelausschlag, denn noch viel stärker meldete sich das Geistig-Seelische (nun wieder in dieser Kombination) zurück als Protest gegen einen als einseitig und überspitzt verstandenen monistischen Naturalismus, wie er sich bei manchen Vertretern der modernen Hirnforschung („Hirn&Geist“) Ausdruck verschaffte. Konnte ein Gagarin noch Verblüffung und nachsichtiges Lächeln erregen mit seiner naiv-materialistischen Aussage, er sei durch den Weltraum geflogen, aber Gott habe er nirgendwo entdecken können, so beanspruchen jedoch heutige Hirnforscher alle Ernsthaftigkeit der Welt, wenn sie erklären, sie könnten nun die Funktionsweise des Gehirns genau beschreiben und die Determiniertheit mentaler Prozesse durch physiologische Tatbestände beweisen, im elektronisch erzeugten Gehirnbild finde man sozusagen alle Farben, nur eine Seele habe man nirgendwo entdecken können. Da sind offensichtlich kategoriale Unterscheidungen durcheinander gegangen.

In einem letzten Gedankengang werden wir uns diesen aktuellen Fragestellungen zuwenden und mit Erstaunen feststellen, dass seit Jahrzehnten philosophisch nicht mehr so vielfältig und intensiv über die Seele nachgedacht, gesprochen und geschrieben worden ist wie gerade in den letzten fünfzehn Jahren. Im Anschluss daran werden wir uns fragen, welchen neuzeitlichen Ausdruck diejenigen Funktionen gefunden haben, die ein Plotin mit seinem Aufschwung der Seele zur Unendlichkeit des Geistes und ein Augustinus in seinen Bekenntnisses mit dem Programm einer „Reinigung der Seele“ auf ihre Weise beantwortet haben.





  1. Die andauernde Bedeutung des Seelischen



In dem vergangenen Jahrzehnt sind eine überraschende Zahl von Publikationen und Aufsatzsammlungen erschienen und Kolloquien auf universitärer Ebene veranstaltet worden, die wieder das Wort „Seele“ im Titel führen. Sie lauten (in einer Auswahl) „Über die Seele“, „Seele – Denken – Bewusstsein“, „Das Leib-Seele-Problem“, „Die Aktualität des Seelenbegriffs“. Hierin meldet sich ein offenkundiges Unwohlsein darüber, dass mit dem Begriff „Seele“ eine Sache vergessen sein könnte, die sich eben doch nicht so ohne Weiteres in den unscharfen Nebel eines nicht einmal mehr mentalen Phänomens auflösen lässt.



    1. Das Leib-Seele-Problem in aktueller philosophischer Sicht – Ansgar Beckermann

In seiner für Studienzwecke geschriebenen „Einführung in die Philosophie des Geistes“ (2008) gibt Ansgar Beckermann eine prägnante Übersicht über die gegenwärtige Problemlage zu unserem Thema. Nach einer historischen Rückblick fasst er die „Hauptaspekte des Leib-Seele-Problems“ wie folgt zusammen: „Die bisherigen Überlegungen haben deutlich gemacht, dass man im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis des Mentalen zum Physischen zunächst einmal zwischen Dualismus und Naturalismus bzw. Physikalismus unterscheiden muss. Der Dualist vertritt die These, dass das Mentale ein ontologisch eigenständiger Bereich ist, der nicht auf den Bereich des Physischen zurückgeführt werden kann. Der Naturalist oder Physikalist dagegen behauptet, dass das Mentale auf das Physische reduziert werden kann.“ (Beckermann, S. 19) Der Konflikt kann mit der Unterscheidung von Substanzdualismus (Seele als vom Körper unabhängige Substanz, ~ Platonismus) und Eigenschaftsdualismus (Seele und Geist als ontologisch selbständige Eigenschaften des Körpers, ~ Aristotelismus) noch präzisiert werden. Dem steht ein monistischer Physikalismus entgegen, der eine vom Körper unabhängige, eigenständige Seele, sei es als „Substanz“, sei es als „Eigenschaft“ ablehnt. Für ihn lassen sich alle mentalen Eigenschaften auf physische Eigenschaften reduzieren (Reduktionismus). Beckermann arbeitet das Pro und das Contra beider Grundposition heraus und erkennt mit Recht in der Erklärung der Interaktion zwischen Körper und Seele das entscheidende Problem. Wie kann es überhaupt zu einer Einwirkung der Seele auf den Körper kommen? In der Neurobiologie kommt man sehr gut ohne Seele aus, es haben sich nirgendwo nicht-physikalische Kausalitäten ergeben, sprich: Ein direktes Einwirken des Geistig-Seelischen auf physiologische Prozesse ist empirisch nicht nachweisbar. Beckermann macht daran anschließend auf den Vorschlag Peter Strawsons († 2006) aufmerksam, der den rein physischen Dingen im Sinne der res extensa Descartes' die Person als geistig-körperliche Einheit, die nicht mehr reduzierbar sei, gegenüber stellt, - eine interessante Modifikation des Substanzdualismus.

Aber auch die Gegenposition, die „Identitätstheorie“ des Physikalismus, hat ihre Schwierigkeiten. Zunächst muss definiert werden, welche Identität denn genau zwischen mentalen und physiologischen Phänomenen gemeint ist. Im Rückgriff auf die analytische Philosophie (z.B. Carnap) findet Beckermann dafür drei Möglichkeiten: „(1) Mentale Zustände sind mit Gehirnzuständen (bzw. generell mit physischen Zuständen) identisch. (2) Die Prädikate, mit denen wir mentale Zustände zuschreiben, stehen für physische Zustände. (3) Zu jedem mentalen Prädikat ,M' gibt es ein physisches Prädikat ,P', so dass ,M' und ,P' dieselbe Eigenschaft bzw. denselben Zustand ausdrücken.“ (a.a.O. S. 66) Auch hier gilt es noch einmal zu unterscheiden, denn eine Identität kann reduktionistisch (= A kausal rückführbar auf B) oder nicht-reduktionistisch (A identisch mit B, aber nicht kausal rückführbar auf B) verstanden werden. Ferner kann eine Identität ontologisch behauptet (A ist identisch mit B) oder als reduzierbare Erklärbarkeit (A ist erklärbar durch B) verstanden werden. Letzteres führt zur sogenannten Supervenienztheorie (z.B. Frank Jackson), die ein Entsprechungsverhältnis von Eigenschaftsgruppen beschreibt, das notwendigerweise oder de facto besteht und auch ontologische Abhängigkeit nicht ausschließt. Nimmt man noch den Funktionalismus eines Hilary Putnam (geprägt vom Computermodell) hinzu, so wird die auf den ersten Blick so einfache Identitätstheorie geistig-seelischer und physikalischer Phänomene doch recht unübersichtlich und komplex. Beckermann fasst zusammen: „Varianten des Eigenschaftsphysikalismus: (1) Klassische Identitätstheorie: Der Eigenschaftsphysikalismus ist genau dann wahr, wenn jede mentale Eigenschaft nicht-analytisch identisch ist mit einer physischen Eigenschaft. (2) Theorie der reduktiven Erklärbarkeit: Der Eigenschaftsphysikalismus ist genau dann wahr, wenn jede mentale Eigenschaft allein mit Bezug auf physische Eigenschaften reduktiv erklärt werden kann. (3) Supervenienztheorie (im Sinne von Jackson): Der Eigenschaftsphysikalismus ist genau dann wahr, wenn mentale Eigenschaften im Sinn von Jackson über physischen Eigenschaften supervenieren.“ Wahrscheinlich weil es so kompliziert geworden ist, haben sich nur zwei Versionen erhalten: „In der philosophischen Diskussion spielen im Augenblick daher nur zwei Lesarten des Eigenschaftsphysikalismus eine Rolle: Die klassische Identitätstheorie und die Theorie der reduktiven Erklärbarkeit.“ (a.a.O. S. 86f.)

Auch wenn der Eigenschaftsphysikalismus als Erklärungsmodell in der aktuellen Philosophie dominiert, ist er doch keineswegs frei von erheblichen Probleme. Sie zeigen sich bei näherer Differenzierung, welches denn die zu erklärenden 'mentalen Phänomene' sind. Da ist zu unterscheiden zwischen Empfindungen (sensation, experience) und intentionalen (oder propositionalen) Zuständen, also zwischen Sinneseindrücken und Körperempfindungen einerseits und Wünschen, Befürchtungen, Absichten, aber auch Überzeugungen andererseits. Empfindungen sind durch ihren qualitativen Charakter ausgezeichnet, sie werden darum „Qualia“ genannt. Intentionalität ist charakterisiert durch das Ausgerichtet-Sein auf etwas. Beides macht den Eigenschaftsphysikalisten zu schaffen: „... woran es eigentlich liegt, dass es vielen so schwierig erscheint, im Hinblick auf mentale Zustände - also Empfindungen und intentionale Zustände - Eigenschaftsphysikalisten zu sein. Die Antwort ist: Empfindungen und intentionale Zustände haben Merkmale (sie sollen hier kritische Merkmale heißen), die es zumindest prima facie unmöglich erscheinen lassen anzunehmen, sie seien in irgendeinem Sinne physische Zustände.“ (Beckermann, a.a.O.S. 91) Das Problem bei den Empfindungen ist eben, dass sie „qualitativen Erlebnischarakter“ haben; das Problem bei den Intentionen ist, dass sie auf ein „repräsentionales Objekt“ (was ich 'im Kopf' habe) verweisen: Wie soll dies Beides von der physikalischen Ebene verursacht sein oder mit ihr zusammen hängen? Dafür gibt es nun unterschiedliche Lösungsmodelle, die hier nicht weiter verfolgt werden sollen. Sie sind keineswegs überein stimmend, sondern jeweils umstritten und heftig diskutiert. Das „Qualia-Problem“ gilt Beckermann daher als das „meist diskutierte Problem in der Philosophie des Geistes der Gegenwart“ (a.a.O. S. 112) und er schlussfolgert: „Wenn der Eigenschaftsphysikalismus wahr ist, dann würde aus einer vollständigen Beschreibung der physikalischen Aspekte unserer Welt a priori folgen, wie die mentalen Eigenschaften in unserer Welt verteilt sind.“ (a.a.O.) Genau dieses aber ist die auch von Beckermann akzeptierte Grundthese des monistischen Physikalismus, der letztlich auf dem Prinzip beruht: Alle geistigen und seelischen Prozesse sind auf physiologische Prozesse zurück zu führen, und dies aus dem einfachen Grunde, weil für diese Ansicht von Mensch und Welt ontologisch nur die Physis, das natürlich-materiell Gegebene existiert. Es liegt die klassische Form einer petitio principii vor: Dass nicht sein kann, was nicht sein darf.



    1. Die Virulenz des Seelischen

Gegen diese 'geistige Vorherrschaft' eines naturwissenschaftlich begründeten und methodologisierten monistischen Physikalismus erhebt sich neuerdings deutlicher Protest, man könnte auch von einer zu erwartenden Gegenbewegung sprechen. Wie weit sie philosophisch Bedeutung erlangen wird, ist noch nicht abzusehen, ganz zu schweigen von einem Alltagsverständnis, das entweder platt materialistisch geprägt ist und / oder damit mehr oder weniger verbunden alle möglichen Weisen des Geistes (und von Geistern!) für praktisch denkbar hält. Nebenbemerkung: Es ist schade, dass es kaum philosophisch validierte Untersuchungen und Analysen unseres Alltagsbewusstseins gibt (Ausnahme vielleicht: Mechsner, s.u.), das gewiss nicht nur zeitlich und regional, sondern noch viel stärker kulturell und religiös differenziert sein dürfte und Dinge nebeneinander aushält und durchhält, die philosophisch-logisch völlig unmöglich bzw. widersprüchlich zu sein scheinen. Der Mensch ist da praktisch zu erstaunlichen mentalen Integrationsleistungen fähig. - Auf zwei aktuelle Vorschläge soll hingewiesen werden, die aus meiner Sicht einen neuen Zugang zur „Seele“, das heißt in heutiger Terminologie, zum „Leib-Seele-Problem“ ermöglichen. Der eine Ansatz geht von einer „Prozessontologie des Personalen“ aus, der andere versucht, sowohl dem ganzheitlichen Anima-Begriff als auch dem Hylemorphismus des Aristoteles eine neue hermeneutische Qualität, also eine andere Deutungsmöglichkeit als die des naturwissenschaftlich orientierten Mainstream, abzugewinnen.

      1. Das System dreier evolutionärer Prozessontologien – Franz Mechsner

Mechsner geht aus von einem Begriff der Personalität, die das Phänomen des Anders-Könnens, also der Willensfreiheit einschließt. Er fragt: „Was bedeutet es konzeptuell im Alltag, sich und andere als freie verantwortliche Personen zu begreifen? … Welchen Ort hat die als willensfrei verstandene Person im System der Wissenschaften?“ (Mechsner in: Die Aktualität des Seelenbegriffs, S. 105) Zur Beantwortung dieser Fragen geht er von einer vielfach gegliederten Arbeitshypothese aus: „In einem ersten Schritt untersuche ich die kognitionspsychologische Hypothese, dass wir Vorgänge im Alltag über genau drei unterschiedliche naive mentale „Prozessontologien" - vortheoretische Systeme von Annahmen, wie die Welt aufgebaut ist und funktioniert - begreifen. Diese Ontologien unterscheiden sich - und dies ist der Dreh- und Angelpunkt - fundamental in ihren Kausalitätskonzepten. Die „materiale" Ontologie ist prototypisch charakterisiert durch „Dinge" die über Naturkräfte aufeinander wirken. Die „teleofunktionale" Ontologie ist charakterisiert durch „Lebewesen", die zweckhaft agieren. Die „personale" Ontologie ist charakterisiert durch „Personen", die mit freiem Willen begabt sind. Für diesen gedanklichen Rahmen ist zentral, dass sich diese drei naiven mentalen Prozessontologien nicht begrifflich ineinander überführen lassen, da ihre kausalen Grundkonzepte inkommensurabel sind. So lässt sich Zweckhaftigkeit begrifflich nicht über materiale Vorwärtskausalität definieren und konzipieren, und Willensfreiheit nicht über Zweckhaftigkeit. Im vorgeschlagenen gedanklichen Rahmen ist durch Willensfreiheit charakterisierte Personalität somit ein nicht weiter begründbares basales Konzept einer speziellen naiven Prozessontologie, mittels der wir unter anderem Handlungen verstehen. … In einem zweiten Schritt untersuche ich die epistemische Bedeutung der drei angenommenen Prozessontologien für die Wissenschaften. Wenn es sich bei den drei naiven mentalen Prozessontologien tatsächlich um unsere einzigen, nicht aufeinander reduzierbaren Weisen handelt, Prozesse zu verstehen, würde es auf den ersten Blick nahe liegen, sie in folgender Weise als fundamentale konzeptuelle Systeme auch in der Wissenschaft zu akzeptieren: Die Grundkonzepte der Materialwissenschaften würden durch eine materielle Ontologie zu charakterisieren sein, die der Lebenswissenschaften durch eine teleofunktionale Ontologie und die der Humanwissenschaften durch eine personale Ontologie.“ (a.a.O. S. 105f.) Mechsner plädiert dafür, „die drei Prozessontologien als grundlegend für drei wissenschaftliche Betrachtungsweisen zu akzeptieren und auszuarbeiten.“ Im Blick auf einen einheitlichen Begriff von Wissenschaft fährt er fort: „... ein Akzeptieren der drei Prozessontologien als grundlegend für drei unterschiedliche wissenschaftliche Weltsichten gefährdet keineswegs die prinzipielle Idee einer Einheit der Wissenschaften mit den Materialwissenschaften als Basis. Im Gegenteil: Es erlaubt erst, diese Einheit auf elegante Weise plausibel zu machen. Denn obwohl die basalen Konzepte inkommensurabel sind, lässt sich die personale Ontologie als „evolutionär emergent" auf der teleofunktionalen aufruhend verstehen und die teleofunktionale Ontologie als evolutionär emergent auf der materiellen aufruhend. Diese Emergenzrelation darf jedoch nicht nur gefordert, sondern muss im Detail einsichtig gemacht werden. Die entscheidende Strategie, die Rede von der Emergenzbeziehung zu rechtfertigen ist hier, nach (evtl. hypothetischen) Systemen zu suchen, die evolutionär gewissermaßen zwischen den entwickelten ontologischen Stufen stehen und sich sowohl mit Konzepten der „unteren" als auch mit Konzepten der darauf aufruhenden „emergenten" Ontologie verstehen lassen.“ (a.a.O. S. 106f.) Dabei möchte Mechsner aus der misslichen Lage heraus kommen, über Willensfreiheit in den hermeneutischen Wissenschaften gleichsam nur „Als-ob“ zu reden, weil es sie 'in Wirklichkeit', also naturwissenschaftlich betrachtet, ja nicht gebe. Die Plausibilität dieser auf den ersten Blick verblüffenden und spekulativ erscheinenden Hypothesengruppe versucht er in seinem Aufsatz aufzuweisen, indem er an einigen Beispielen die Übereinstimmung mit experimentalpsychologischen, kognitionswissenschaftlichen und hirnphysiologischen Anforderungen und Forschungsergebnissen darlegt. Er nennt seinen Argumentationsgang selber „holzschnittartig“ und „bruchstückhaft“ (a.a.O. S. 122), fordert ausdrücklich, dass die von ihm benannten drei Prozessontologien nicht einfach „dogmatisch behauptet“ werden dürfen (a.a.O. S. 115); vielmehr gilt: „Das Vorliegen der Emergenzbeziehungen zwischen den Ontologien muss überzeugend aufgezeigt werden.“ (a.a.O. S. 116) Das Faszinierende des hypothetischen Entwurfs von Mechsner liegt in der Differenzierung genau dreier gleichwertiger Ontologien (material, biologisch, personal) mit je eigenen Kausalitätsanforderungen (proximat, d.h. physikalisch unmittelbar wirkend; teleofunktional, d.h. zweckmäßig und zielgerichtet; personal, d.h. absichtsvoll und willensfrei; vgl. Nikolaas Tinbergen), die er als einander „aufruhend“ konzipiert und sie mit einer evolutionären Perspektive verbindet: Jede Ontologie hat sich „emergent“ d.h. unableitbar, im Laufe der Evolution auseinander entwickelt. Dabei gibt es eine Phase der Doppeldeutigkeit, während derer Prozesse („intermediäre Systeme“, S. 118) zwar noch rein physikalisch-chemisch, aber im Rückblick auch schon teleofunktional beschrieben werden können. Er zeigt dies auf an dem von Manfred Eigen entwickelten (nicht mehr ganz neuen) Modell des Lebendigen als sich selbst organisierender materialer Prozesse. Ab einer bestimmten Entwicklungsstufe sind Moleküle nicht nur chemisch reagierende Moleküle, sondern sich zielgerichtet vermehrende und anpassende, d.h. sich evolutionär entwickelnde organische Einheiten, Viren zum Beispiel. Nach demselben Modell möchte er die personale Emergenz entstanden gedacht (und nachgewiesen!) wissen, nämlich sich evolutionär emergent aus dem teleofunktional begründeten Lebewesen entwickelnde personale Lebewesen, die in ihrem ontologischen Zusammenhang „wirklich“ frei und absichtsvoll und verantwortlich handeln können. Im Grunde könnte man dieses Denkmodell dann auch auf das Verhältnis von Geist und Materie, von Seele und Leib hin durch deklinieren. Ausdrücklich verweist Mechsner auf die Forderung Jürgen Habermas' nach einem „epistemischen Perspektivendualismus“, den er seinen Hypothesen entsprechend zu einem „Perspektiventrialismus“ erweitert sehen möchte (a.a.O. S. 114f.). Dieser Ansatz, gerade weil er so verblüffend anders einsetzt und zwar einerseits gegen das methodologische Diktat des physikalischen Monismus protestiert, andererseits einen einheitlichen Wissens- und Wissenschaftsbegriff festhalten und jeglichen „Substanzdualismus“ vermeiden möchte, ist in jedem Falle interessant zu verfolgen. Wenn die Validierung auf die eine oder andere Weise gelingt, gewiss mit Modifikationen und Korrekturen, dann würde sich eine ganz neue Akzeptanz valider geistiger Prozesse ergeben jenseits des leidigen Dualismus der physikalischen und hermeneutischen Wissenschaften – oder mit Mechsners eigenen abschließenden Worten: „Eine wichtige Konsequenz ist, dass der Begriff der Willensfreiheit und damit eine wesentliche Dimension des Personbegriffes als eine eigene ontologische Ebene fundierend aufgefasst wird - und dass dies keineswegs esoterisch ist, sondern wissenschaftlich gerechtfertigt werden kann.“

      1. Eine aristotelische Rückbesinnung

Entgegen der Entwicklung der abendländischen Denktradition, die „Seele“ auf den kognitiven Teil verkürzt und schließlich zugunsten des Selbst eskamotiert oder auf einen nur noch theologisch bedeutsamen „Rest“ reduziert, gibt es beachtliche Versuche, anhand des aristotelischen Denkens neue Perspektiven zu gewinnen. Es mag erstaunlich erscheinen, durch einen solchen Rückgriff 'vorwärts' kommen zu wollen, und es geht dabei auch nicht eigentlich um eine Wiederbelebung, als vielmehr um eine Anregung, aus bestimmten neuzeitlichen Engführungen, Denkverlusten und Aporien wie etwa dem Leib-Seele-Dualismus heraus zu kommen. Der aristotelische Anima-Begriff ist dazu geeignet, die Erinnerung der Ganzheit in das wissenschaftliche Bewusstsein zu heben, so dass der Begriff eines ganzheitlich verstandenen Lebensprinzips vielleicht einigen heuristischen Nutzen haben könnte. Marianne Schark, Freiburger Ethikerin, möchte den Begriff des Lebewesens als „ontologische Kategorie“ sui generis erneuern: „Es wäre ein Fehler, den Lebewesenbegriff für einen biologischen Begriff zu halten; es handelt sich bei ihm vielmehr um einen ontologischen Grundbegriff, der eine der grundlegenden ontologischen Kategorien unseres Begriffssystems bezeichnet. Darum wäre es auch falsch, seine Definition der Biologie zu überlassen. Die Biologie ist zwar die Wissenschaft von den Lebewesen, aber nicht die Wissenschaft davon, was ein Lebewesen ist. Diese Frage ist aufgrund ihrer Fundamentalität vielmehr metaphysischer Natur und ihre Beantwortung eine Aufgabe deskriptiver Metaphysik.“ (Marianne Schark, in: Die Aktualität des Seelenbegriffs, S. 235ff.) Dies setzt freilich schon voraus, dass man eine metaphysische Fragestellung als wissenschaftlich akzeptiert, was bekanntermaßen heute keineswegs selbstverständlich ist. Nun sollte man sich auch nicht gleich von den 'sciences', also den physikalistisch dominierten Wissenschaften, den Wissenschaftsbegriff rauben oder diktieren lassen, insofern ist dieser Denkansatz legitim und muss seine Plausibilität im Fortgang des Denkens erweisen. Auch bei Schark läuft es auf ein personales Verständnis des Menschen hinaus, der durch Handlungsfreiheit gekennzeichnet ist: „Genuine Handlungsfreiheit besitzen nur geistbegabte Wesen, weil der Geist der Entscheidungsfähigkeit die Grundlage der Entscheidungsfähigkeit ist.“ (a.a.O. S. 251) Aus meiner Sicht liegt in einem umfassenden, 'holistischen' Anima-Begriff aber noch sehr viel mehr Potential, indem er aus der nur physikalisch-biologistischen oder geist-metaphysischen Alternative oder Gegensätzlichkeit heraus führen könnte. In der Tat, ein Lebewesen, zumal ein menschliches Lebewesen, sollte von eigener ontologischer Valenz sein. Es wäre zu zeigen, dass die neuzeitliche Zuspitzung des Mentalen auf die res cogitans, die mens oder die mind-brain-Frage eine Verengung darstellt, die einen umfassenderen und der „Sache“ des Lebens und des Menschen angemesseneren Begriff erforderte. Dafür könnte sich das Modell das aristotelischen Anima-Begriffes für den Anfang anbieten. Ausreichend wird das freilich nicht sein, aber es geht hier zunächst einmal um eine Aufgabenstellung. Es könnte verheißungsvoll sein, sie weiter zu verfolgen.

Anders setzt Tobias Kläden ein. Er möchte das erschließende Potential des thomistisch-aristotelischen Hylemorphismus für die heutige mind-brain-Debatte (Hirn & Geist) wieder entdecken. Für Thomas von Aquin stellt er fest: „Für die Existenz des Mentalen postuliert Thomas also keine zusätzliche Entität, die als immaterielle Substanz Trägerin mentaler Eigenschaften wäre, sondern ein bestimmter physischer Gegenstand (hic homo) ist Träger dieser mentalen Eigenschaften. Gleichwohl betont Thomas, dass die menschliche Seele als erstes Lebensprinzip selbst keine körperliche (physische) Entität oder ein Teil einer solchen sein kann.“ Und weiter: „Thomas ist somit kein Eigenschafts-Physikalist oder Physikalist im engeren Sinn, sofern diese Position durch die Behauptung charakterisiert ist, dass (alle) mentalen Eigenschaften in irgendeiner Weise ontologisch auf physische Eigenschaften zurückführbar sind. … Trotzdem aber könnte man versuchen, Thomas als Physikalisten in der schwächsten Version, d. h. im Sinne der Realisierungstheorie zu verstehen, wonach alle mentalen Zustände in physischen, nämlich neuronalen Zuständen realisiert oder implementiert sind.“ (Tobias Kläden, in: Die Aktualität des Seelenbegriffs, S. 262) Kläden verweist dafür auf Thomas' Begriff der „intellektiven Seele“, die als ganze 'Form des Körpers' ist. Er gibt aber zu, dass man den Physikalismus sehr weit fassen muss, um Thomas darin unter zu bringen, denn zweifelsfrei besteht Thomas auf der ontologischen, wenngleich nicht substanzhaften Eigenständigkeit der intellektiven Seele – also doch eine eher dualistische Auffassung. Wenn man aber einmal die Frage der „taxonomischen Einordnung“ (physikalistisch – dualistisch) beiseite lässt und zudem die oben dargestellten Probleme der verschiedenen physikalistischen Identitätstheorien bedenkt, dann liegt der Vorschlag Klädens gar nicht so ferne, die auf Aristoteles zurück gehende hylemorphistische Betrachtungsweise des Menschen, also auf seine Wesensbestimmung als leib-seelische Einheit, zum „Katalysator für die heutige Debatte“ zu machen und den letztlich cartesischen Dualismus zu überwinden (a.a.O. S. 263): „In dieser Situation erscheint der hylemorphistische Ansatz des … Aristoteles als eine Alternative zum kartesischen Weltbild und den durch dieses geprägten philosophischen Positionen. Denn er hat statt eines impliziten Dualismus eine Ontologie zum Fundament, welche die Betrachtungsebene der konkreten Einzeldinge als die primäre ansieht und den Menschen und alle anderen Dinge der Lebenswelt als ursprüngliche und wesentliche Einheit begreift. Dadurch, dass Seele und Körper im Verhältnis von Form und Materie zueinander stehen, wird die Verdinglichung mentaler und physischer Entitäten von vornherein vermieden. Denn beide sind Konstitutionsprinzipien des einen Menschen und bestehen nicht für sich, sondern sind Aspekte der ontologischen Analyse am Kompositum „Mensch“. Der Bereich des Mentalen wird somit nicht als ein verdinglichter und abgrenzbarer Kontroll- und Steuerungsmechanismus im Inneren des Organismus angesehen, sondern eher als ein gestalthaftes, strukturverleihendes Gesamt von Fähigkeiten und Dispositionen des ganzen Organismus.“ (a.a.O. S. 266) Genau dies könnte wiederum ein holistisches Anima-Konzept unterstreichen, das wir schon oben diskutiert haben. Beides zusammen also könnte einen neuen Zugang eröffnen, der fest gefahrene Alternativen vermeidet: „Statt als ein Verhältnis der strikten Identität kann die von der hylemorphistischen Perspektive beschriebene Relation von Körper und Seele angemessener als ein Aktualisierungs- oder Realisierung Verhältnis beschrieben werden. Beide sind also nicht wie bei einer Identitätsrelation wechselseitig notwendige und hinreichende Bedingungen. Vielmehr stellt das Mentale als das Verwirklichungsprinzip eine über die materielle Basis hinausgehende Wirklichkeit dar; gleichzeitig impliziert der Begriff der Verwirklichung aber auch, dass das Mentale von der zu verwirklichenden Materie abhängig ist.“ (a.a.O. S. 267)



    1. Leib – Seele – Einheit im Komplementaritätsmodell

Dass dieser zuletzt dargestellte Vorschlag von Seiten der religiös gebundenen, katholisch orientierten Philosophie kommt, muss ja noch nicht heißen, dass er von vornherein falsch ist. Es könnte hier im Gegenteil etwas gesehen werden, was durch die naturalistische Brille konsequent ausgeblendet wird. Darum ist dieser wie andere Vorschläge (siehe Josef Quitterer, Das Potential des Seelenbegriffs, in: Die Aktualität des Seelenbegriffs, S. 271 ff.) sehr genau auf wissenschaftliche Methodik, Konsistenz, Plausibilität und Diskursfähigkeit zu überprüfen. Es hilft schließlich nichts, wenn hier ein neuer „Elfenbeinturm“ der Geist-Philosophie aufgerichtet würde, der gegenüber anderen Position, insbesondere der naturwissenschaftlichen, nicht mehr vermittelbar und diskussionsfähig ist. Allerdings muss man auch hier zugeben, dass ein solcher neuer Ansatz letztlich einen Perspektiven-Dualismus vertritt, der vielleicht aber dem ganzheitlichen Menschsein eher angemessen ist als ein Substanz- oder Wesensdualismus oder ein physikalistischer Monismus. Den Menschen als leib-seelisch-geistige Einheit aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und dann auch bei methodischer 'Befragung' (Untersuchung) jeweils eines Aspektes auch jeweils etwas in sich Verschiedenes zu Gesicht zu bekommen, das aber nicht einen realen („res“), substantiellen Unterschied begründet, das erinnert doch stark an die Veränderung, die das naturwissenschaftlich-mechanistische Weltbild (Newton) durch die Quantentheorie (Max Planck u.a.) erfahren hat. Werner Heisenberg (Der Teil und das Ganze, 1973) hat zusammen mit Niels Bohr dafür den Begriff der Komplementarität geprägt. Carl Friedrich von Weizsäcker hat es in seinem umfangreichen philosophischen Werk unternommen, die erkenntnistheoretischen und logischen Konsequenzen aus dieser neuen Sicht zu ziehen (z.B. Zum Weltbild der Physik, 131990), die durch die wechselseitige Verschränkung von Beobachter und Beobachtetem noch zusätzlich kompliziert wird. Immerhin hat die dort geführte Debatte dazu geführt, dass die komplementäre, wissenschaftlich exakte Beschreibung von Naturvorgängen, also zum Beispiel der Beschreibung des Lichtes oder des Elektrons entweder als Welle oder als Korpuskel oder, ein anderes Beispiel, die berühmte, durch Einsteins Formel E=mc2 dargestellte Äquivalenz von Masse und Energie, zur selbstverständlichen wissenschaftstheoretischen Basis des physikalischen Denkens in der Quanten-und Relativitätstheorie geworden ist. Kein Physiker oder Philosoph würde da heute noch thematisieren, was das Licht denn nur „wirklich“ sei, als ob es neben der komplementären Beschreibung, die übrigens in den Schrödingerschen Wellengleichungen (siehe dazu Erwin Schrödinger, Mein Leben, meine Weltansicht, 1985; ders., Was ist Leben? 1944) mathematisch einheitlich ausgedrückt werden, noch eine gesonderte, 'eigentliche' Substanz oder Wirklichkeit gäbe. Ähnlich schief kommt mir die heutige Fragestellung im Blick auf Geist & Gehirn vor. Weder das Eine (z.B. Materie) noch das Andere (z.B. Seele) noch ein unabhängiges Drittes (z.B. Geist) gilt für sich, sondern es bleibt der eine ganze Mensch als Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung (der Beobachter beobachtet sich hier selber!), dessen „Wesen“ man nur mit unterschiedlichen Antworten, je nach Fragestellung und Perspektive, angemessen beschreiben kann: Als physiologisch beschreibbare 'Kohlenstoffeinheit', als biologisch-affektives Lebewesen und als personales, geistbegabtes Menschenwesen. Es könnte sich bei dieser Herangehensweise ergeben, dass die Alternative Dualismus contra Monismus (Identitätstheorie) zu einer völlig falschen Frage führt. Es rächt sich hier offenbar, dass selbst die Naturwissenschaften so gegeneinander 'abgeschottet' sind, dass die Biogenetiker, Evolutionsbiologen und Hirnforscher sowie ihre analytisch-philosophischen Interpreten die erkenntnistheoretische Grundsatzdebatte, die vor siebzig Jahren von der Entdeckung der Quantenphysik ausgelöst wurde, zur Kenntnis zu nehmen. Es täte auch der heutigen Philosophie, speziell in der Debatte um die „Philosophie des Geistes“, gut, beispielsweise das Werk Carl Friedrich von Weizsäckers überhaupt zur Kenntnis zu nehmen; doch dies scheint bisher im Starnberger See versunken zu sein. Es harrt der Wiederentdeckung zur Grundlegung einer nach-physikalistischen Anthropologie.





  1. Offene Fragen und Ausblicke



Wir haben einen knappen Gang durch die Geschichte der Philosophie gemacht und haben uns einzelne Grundlegungen und darauf folgende Wendepunkte näher angesehen. Wir sind zu den Fragestellungen der Gegenwart vorgedrungen, die sich nur noch am Rande mit der Seele befassen und unser Thema unter der Überschrift „Geist & Hirn“, mind and brain, Geist und Materie abhandeln. Die Frage nach der Seele ist merkwürdigerweise dabei fast abhanden gekommen. Selbst religiös orientierte Philosophen haben es schwer, die Beschäftigung mit der Seele als einem wissenschaftlich akzeptablen Thema mit interdisziplinär verständlichen Methoden zu rechtfertigen. Die Religion selbst scheint gar kein Interesse mehr an dem überholten Thema Seele zu haben; es reicht gerade noch für die Gesangbücher und Erbauungsschriften. Philosophisch scheint der Gegenstand weitgehend 'verbrannt': Man fasst ihn besser nicht mehr an, zu viel Abergläubisches, Naives, Vorwissenschaftliches scheint darin zu stecken. Nur der Geist ist noch als 'mentales Phänomen' ein erlaubter Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit, jedoch haben sich auch Philosophen einer „Philosophie des Geistes“ zu rechtfertigen, was ihre Methoden und vor allem auch was den Gegenstandsbereich selber betrifft. Da ist es doch immer gut, wenn man seine letztendliche Übereinstimmung mit den Grundthesen der Physikalisten nicht infrage stellt. Nur die materielle Basis zählt; nur die physikalische Kausalität gilt (welche denn sonst? wird man sogleich gefragt), nur der Grundsatz der Ableitbarkeit aller, wirklich aller menschlich-weltlichen Phänomene (und anderes ist ja nicht einmal Phänomen, sondern Glaubensartikel) aus basalen Strukturen dessen, was 'die Welt im Innersten zusammen hält' – und das sei nun eben die naturwissenschaftlich – physikalische Welt des Materiellen. Dies ist zum Grunddogma des Wissenschaftsbegriff der Moderne geworden. Aber auch dies ist ein Dogma, und Dogmen muss man glauben. Die moderne Naturwissenschaft ist keineswegs so voraussetzungslos, wie sie es zu sein vorgibt. Darauf hinzuweisen ist immer wieder die Aufgabe der inzwischen viel geschmähten Geisteswissenschaften, oder anders gesagt, der hermeneutischen Wissenschaften, die das intersubjektive Verstehen und Deuten sowie das geistige, musische, insgesamt künstlerische Erkenntnisvermögen des Menschen zum Gegenstand haben. Wer sich sich für diese Gebiete die Wissenschaftlichkeit einfach absprechen lässt, hat schon verloren gegenüber dem einseitigen Wissenschaftsbegriff, der, aus dem angelsächsischen kommend, nur einfach „science“ heißt – alles andere sind „humanities“. Der jeweils unerklärt bleibende Rest ist dann das Inkommensurable; das jeweils Neue, Unerklärliche heißt das Emergente, und was nicht notwendig, aber auch nicht unmöglich ist, wird Kontingenz genannt. So wird auch das zunächst Nicht-Logische, Nicht-Kausale begrifflich begrenzt und theoretisch einbezogen und entschärft. Besonders die Systemtheorie (Niklas Luhmann u.a.) hat hierbei Entscheidendes geleistet.



    1. Ein holistischer Begriff der „Anima“

Aber die hermeneutischen Wissenschaften, also die Sprachwissenschaften und die Philosophie, die Künste und auch die methodisch-wissenschaftliche Theologie bewahren ein Wissen (ja, was denn sonst?) von dem, was ebenso grundlegend zum Menschsein dazu gehört wie der menschliche Drang zur Naturerforschung und zum wissenschaftlichen Experiment. Sie haben darüber hinaus noch etwas mehr im Blick, was im 'modernen' Wissenschaftsbetrieb gar nicht mehr zu finden ist. Sie tragen ein Wissen und fördern ein Fragen nach der Welt als Ganzer, nach dem Sinn und Zweck, nach dem Menschen als Ganzem, nach dem Sinn und Ziel des Lebens, nach dem Tod. Antworten auf diese Fragen findet man nicht, wenn man die Gegenstandbereiche sogleich praktikabel aufteilt, zerlegt und seziert, sie nach allen möglich Rezepten und Methoden analysiert, nach Funktionen, Relationen, Systemen, Kommunikationszusammenhängen klassifiziert und für die jeweils geeignete Untersuchung handhabbar macht. Wer dann Sinn einfach als „Komplexitätsreduktion“ definiert (Luhmann), mag systemtheoretisch genial gearbeitet haben, der hat aber eigentlich von dem, was mit Sinn ursprünglich gemeint und intendiert ist, überhaupt nichts begriffen: Nämlich das, was über sich selbst hinaus weist, was sich nicht unmittelbar erzeugen lässt, was subjektiv vielleicht nur geahnt, erhofft, erbeten werden und 'objektiv', besser gesagt personal, durch einen Anderen nur konkret zugesprochen werden kann. Gewissermaßen als der 'Adressbereich' für diese Fragen nach Ganzheit, Wahrheit, Erfüllung, Sinn dient der alte Begriff der Seele. Nur Lebewesen, die beseelt sind, können in ihrer Existenz über sich selbst hinaus weisen, und sei es durch Bewahrung der Unversehrtheit, der Lebenserhaltung und der Weitergabe des eigenen Lebens, ja auch der Lebensfreude; nur Lebewesen, die wie der Mensch mit Geist und Vernunft ausgestattet sind, können nach 'dem Ganzen' fragen und nach dem 'Sinn' suchen: des Ganzen, des Lebens, der eigenen Existenz. Es ist etwas von dem, was Plotin meinte, wenn er von „dem Einen“, to hen, sprach, dem Urgrund des Geistes, auf das hin der Mensch in seiner Seele ausgerichtet ist, zu dem er sich ausrichten und 'erheben' kann. Die Seele ist es, die Pflanze und Tier vom Stein, die den Menschen von Tier und Pflanze unterscheidet. Kein Stein kann verzweifeln und sich aufgeben: nur Lebewesen leiden, vergehen und sterben, nur Menschen verzweifeln und können protestieren gegen das, was sie erleiden. Das ist mehr als ein nur kategoriales „Qualia-Problem“. Nur ein Begriff vom Menschen, der vom Ganzen ausgeht, das Ganze sucht und sich nach dem 'Jenseits des Ganzen' ausstreckt, das heißt nach dem Sinn fragt, kann den Menschen als Ganzen, mit Körper und Geist, mit Affekten und Kreativität, mit Leiden und Hoffen in den Blick bekommen. Genau dies leistete der überkommene Begriff der „Anima“, der Seele, verstanden als Lebensprinzip und Personmitte. Wir sollten ihn uns neu erarbeiten, einen solchen Begriff wieder gewinnen. Einen alten Begriff einfach zu übernehmen, das reicht nicht, das wird nicht zufriedenstellend gehen. Denn das, was an Denken und Erkenntnis inzwischen geschehen ist, muss in einen neuen holistischen Begriff der „Anima“ einfließen. Die Gesprächsfähigkeit, Artikulationskraft und Argumentationsstärke innerhalb der anderen Wissenschaften sind zwingende Voraussetzungen einer inhaltlichen Neubesinnung und Neubestimmung dessen, was „Seele“ hieß. Es geht um Rationalität, Seriosität und Validität - und nicht um Esoterik.



    1. Das 'radikal Böse'

Neben dieser eben aufgezeigten Perspektive möchte ich noch eine weitere Fehlstelle des heutigen wissenschaftlichen Denkens benennen: Es ist das Denken des Bösen. Ich gebe zu, das ist fast noch altmodischer und unmoderner als der Vorschlag eines neuen holistischen Begriffs der 'Anima'. Wir erinnern uns: Für Augustinus war im Gefolge von Plotin das Böse nichts Eigenständiges, irgendwie 'positiv' Bestimmbares, sondern schlicht die abgestufte Abwesenheit des Guten. Das richtig, also sehr stark Böse war eben das völlige Fehlen des Guten. Diese Sichtweise hatte sich Augustin gegen die Manichäer erkämpft: Das Böse ist keine eigene Macht. Merkwürdig: Diese Auffassung hat sich trotz mancherlei Bestreitung (siehe zum Beispiel der von Sigmund Freud postulierte „Todestrieb“ und der von Konrad Lorenz in „Das sogenannte Böse“ behauptete „Aggressionstrieb“, womit die Frage aufgeworfen wurde, ob Triebe „böse“ sein können) doch fast zwei Jahrtausende unwidersprochen durch gehalten. Noch die Aufklärung, nein, erst recht die Aufklärung sah Bosheit (das Böse als solches wurde kaum thematisiert, Ausnahme Kant) als Ergebnis der Schlechtigkeit und Unvernunft des Menschen an, der man moralisch durch die Geltung von Pflichten (Kant) und pädagogisch in der „Erziehung des Menschengeschlechts“ (G .E. Lessing) begegnen musste. Dann würde man mit der Bosheit schon fertig werden. Das „radikal Böse“ wird erst von Hannah Arendt zum existentiellen Thema gemacht - schon Immanuel Kant hatte diesen Begriff für einen dem Menschen innewohnenden Hang geprägt - , und dieses nicht zufällig nach der Erfahrung des Holocaust: „Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen, d. h. das, womit man sich nicht versöhnen kann, was man als Schickung unter keinen Umständen akzeptieren kann, und das, woran man auch nicht schweigend vorübergehen darf. Es ist das, wofür man die Verantwortung nicht übernehmen kann, weil seine Folgerungen unabsehbar sind und weil es unter diesen Folgerungen keine Strafe gibt, die adäquat wäre. Das heißt nicht, dass jedes Böse bestraft werden muss; aber es muss, soll man sich versöhnen oder von ihm abwenden können, bestrafbar sein.“ (Arendt: Denktagebuch, 1950 S. 7, zitiert nach Wikipedia) Hier hat sich mit der Erfahrung zweier Weltkriege und der Erkenntnis der absoluten Negation alles Menschlichen im Geschehen des Holocaust im Denken etwas ereignet, worüber man nicht mehr ohne Weiteres hinweg gehen konnte, was zu einem Neudenken dessen zwang, was man bisher nur als das moralisch Böse irgendwie und oft recht relativistisch oder naturalistisch erklärt hatte. Der Holocaust ist zu einem kultursprengenden Symbol des tatsächlichen radikal Bösen geworden, wiewohl es vorher und nachher andere Metzeleien und Genozids gegeben hat und gibt, die einen ebenso zu einem neuen Nachdenken über das Böse führen könnten. - Zwei Beispiele der Aufarbeitung mögen für viele stehen.

John Rawls, der berühmte Philosoph des Gerechtigkeitsbegriffs, formulierte in seinen posthum veröffentlichten Gedanken „Über meine Religion“ (1997; in: John Rawls, Über Sünde , Glaube und Religion, 2010) seine Gründe, warum er nicht mehr theistisch religiös sein konnte. Es sind im Wesentlichen drei Gründe, die er nennt: Erstens die Predigt lutherischer Feldpastoren 1944 gegen die Japaner, zweitens der sehr zufällige Kriegstod seines besten Freundes Deacon 1945 und schließlich drittens die Bilder und Informationen im Armeekino über die deutschen Konzentrationslager, auf die die US-Truppen gestoßen waren. Zu Letzteren schreibt er: „Ich begann mich zu fragen, ob Beten überhaupt möglich ist. Wie konnte ich beten und Gott für mich oder meine Familie oder mein Land oder irgend etwas anderes, was ich schätzte und mir wichtig war, um Hilfe bitten, wenn Gott Millionen von Juden nicht vor Hitler retten würde? Wenn Lincoln den Bürgerkrieg als Strafe Gottes für die Sünde der Sklaverei interpretiert, gleichermaßen verdient für den Norden wie den Süden, haben wir es mit einem Gott zu tun, der gerecht handelt. Den Holocaust aber kann man so nicht interpretieren, und alle in diese Richtung gehenden Versuche, die ich gelesen habe, sind gräßlich und böse. Um die Geschichte als Ausdruck des Willens Gottes interpretieren zu können, muß Gottes Wille mit dem einhergehen, was wir für die grundlegendsten Vorstellungen von Gerechtigkeit halten. Denn was kann die grundlegendste Gerechtigkeit sonst sein? So kam ich bald dazu, die Vorstellung von der Überlegenheit des göttlichen Willens als ebenso gräßlich und böse abzulehnen.“ (a.a.O. S. 305) Beides ist „grässlich und böse“, die Tatsache des Holocaust genauso wie die wie auch immer geartete Rechtfertigung dieses Geschehens als Ausdruck des Willens Gottes, also der Versuch, irgend einen Sinn in diesem Geschehen zu finden, es zu erklären oder mit einer Vorstellung einer gerechten göttlichen Weltordnung in Übereinstimmung zu bringen. Dieser Gedanke ist zwar unterschieden von dem heute verbreiteten Postulat der absoluten Unvergleichlichkeit des Holocaust (siehe Historismusstreit), könnte aber in dieser Richtung verstanden werden. Jedenfalls zieht Rawls weitreichende Konsequenzen aus diesen Erlebnissen, indem er nach den Gründen für eine derartige religiöse Rechtfertigung fragt: „Ich kam zu der Überzeugung, daß viele Glaubenssätze moralisch falsch waren, in manchen Fällen sogar abscheulich. Etwa die Lehren von der Erbsünde, von Himmel und Hölle, von der Erlösung durch den wahren Glauben auf Grundlage der Akzeptanz der priesterlichen Autorität. Wenn man keine Ausnahme bei sich selbst machte und daher annahm, man würde gerettet werden, erschien mir die Prädestinationslehre, sobald man sie durchdacht und ihre Bedeutung verstanden hatte, entsetzlich. Die doppelte Prädestination, wie sie am drastischsten bei Augustinus und Calvin formuliert wurde, schien mir besonders entsetzlich, obwohl ich eingestehen mußte, daß sie genauso bei Thomas von Aquin und Luther vorkam und tatsächlich nur eine Folge der Prädestination selbst war. Es wurde mir unmöglich, diese Glaubenslehren ernst zu nehmen, allerdings nicht, weil es nur schwache oder zweifelhafte Beweise für sie gab, sondern weil sie Gott als ein Monster darstellen, das allein von Gottes eigener Kraft und Herrlichkeit angetrieben ist. Als ob solch armselige und entstellte Marionetten, als die die Menschen beschrieben wurden, überhaupt irgend etwas verherrlichen könnten!“ (a.a.O. S. 306) Zugleich erkennt er an: „Ich kam auch zu der Überzeugung, daß nur wenige Menschen diese Glaubenssätze wirklich akzeptieren oder auch nur verstehen. Für die meisten ist Religion völlig konventionell, sie spendet Hoffnung und Trost in schweren Zeiten.“ (ebd.) Rawls sieht also sehr klar, wie die traditionellen theologischen Dogmatiken und Glaubensartikel völlig quer stehen zu dem neuzeitlichen Verständnis von menschlicher Freiheit und Gerechtigkeit. Und er erkennt, dass das Böse („grässlich und böse“) noch nicht annähernd angemessen in den Blick genommen und philosophisch-theologisch verarbeitet ist. Für ihn bedeutet dieser denkerische Prozess jedenfalls das Ende der Möglichkeit traditioneller Religiosität; nur noch „konventionell“ ist sie als Trostspender von Nutzen.

Ähnlich nimmt auch Jürgen Habermas den Holocaust zum Anlass, das neuzeitlich aufgeklärte Denken über das Böse als letztlich nur moralisches Defizit zu hinterfragen. In seiner berühmten Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001 sagte er anknüpfend an Kants moralischen Imperativ: „Bei Kant findet die Autorität göttlicher Gebote in der unbedingten Geltung moralischer Pflichten ein unüberhörbares Echo. Mit seinem Begriff der Autonomie zerstört er zwar die traditionelle Vorstellung der Gotteskindschaft. Aber den banalen Folgen einer entleerenden Deflationierung kommt er durch eine kritische Anverwandlung des religiösen Gehaltes zuvor. Sein weiterer Versuch, das radikal Böse aus der biblischen Sprache in die der Vernunftreligion zu übersetzen, mag uns weniger überzeugen. Wie der enthemmte Umgang mit diesem biblischen Erbe heute wieder einmal zeigt, verfügen wir noch nicht über einen angemessenen Begriff für die semantische Differenz zwischen dem, was moralisch falsch, und dem, was zutiefst böse ist. Es gibt den Teufel nicht, aber der gefallene Erzengel treibt nach wie vor sein Unwesen - im verkehrten Guten der monströsen Tat, aber auch im ungezügelten Vergeltungsdrang, der ihr auf dem Fuße folgt.“ (Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, 2001, S. 23f.) Gelingt dem Anwalt der neuzeitlichen Vernunft, Kant, also noch die Übersetzung der göttlichen Gebote in moralische, das heißt vernunftgemäße Pflichten einigermaßen überzeugend, so kann Habermas die Übersetzung des „radikal Bösen“ aus der biblischen Vorstellung in die Sprache der Vernunft nicht in gleicher Weise akzeptieren. Da ist der „semantische Unterschied zwischen dem, was moralisch falsch, und dem, was zutiefst böse ist“. Genau das ist der entscheidende Punkt. Auch Habermas findet diesen Punkt durch die Erfahrung des Holocaust als nicht mehr zu übergehendes Faktum: „Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren. Denn mit dem Wunsch nach Verzeihung verbindet sich immer noch der unsentimentale Wunsch, das anderen zugefügte Leid ungeschehen zu machen. Erst recht beunruhigt uns die Irreversibilität vergangenen Leidens - jenes Unrecht an den unschuldig Misshandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Maß menschenmöglicher Wiedergutmachung hinausgeht. Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hinterlässt eine spürbare Leere. Horkheimers berechtigte Skepsis gegen Benjamins überschwängliche Hoffnung auf die wiedergutmachende Kraft humanen Eingedenkens - »Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen« - dementiert ja nicht den ohnmächtigen Impuls, am Unabänderlichen doch noch etwas zu ändern.“ Er folgert daraus: „Die ungläubigen Söhne und Töchter der Moderne scheinen in solchen Augenblicken zu glauben, einander mehr schuldig zu sein und selbst mehr nötig zu haben, als ihnen von der religiösen Tradition in Übersetzung zugänglich ist - so, als seien deren semantische Potentiale noch nicht ausgeschöpft.“ (a.a.O. S. 24f.) Dass die „semantischen Potentiale“ der religiösen Sprache noch nicht ausgeschöpft sind, wenn man sie in Vernunftbegriffe übersetzt, ist ein Thema, das Habermas in der Folgezeit wiederholt in Aufsätzen beschäftigt. Das sprachlich-semantische Problem verweist zugleich auf ein eminent sachliches Problem: die Gegebenheit des „radikal Bösen“. Wie formuliert er so schön diese Ambivalenz: „Es gibt den Teufel zwar nicht, aber der gefallene Erzengel treibt nach wie vor sein Unwesen.“ Zugespitzt gefragt: Inwieweit ist das Böse eben doch nicht nur ein Defizit des Guten, sondern eine eigene metaphysisch zu bedenkende „Macht“? Darf, kann, soll man „noch“ derart metaphysisch denken?

Augustin hatte das Böse ebenfalls gekannt. Obwohl er ihm keine eigenständige Macht zusprach, erkannte er doch die Bodenlosigkeit des Bösen; er verarbeitete es in seiner Lehre von der Erbsünde. Sie symbolisiert das zutiefst Böse, das dem Menschen möglich ist, und „dem Menschen“ heißt durchaus, wirklich jedem Menschen. Bei Augustin ist deutlich geworden, wie sehr er aufgrund seiner eigenen Biographie und psychischen Verfasstheit, insbesondere seines ödipal orientierten Mutterkomplexes, das Schlechte und Verworfene einseitig auf die Sexualität konzentriert. Dies hat im Fortgang der Geschichte verheerende Auswirkungen gehabt bis hin zum Hexenwahn und zu Teufelsaustreibungen; alle diese kirchlichen Praktiken hatten stets eine eminent sexuelle, frauenfeindliche Komponente. Insofern müssen wir heute sagen: Diese Konzentration des Bösen auf das Sexuelle ist sachlich falsch, hat eher den Charakter einer 'Verschiebung': Die Ablehnung der Sexualität tritt für Augustin an die Stelle des Kampfes gegen das Böse im Menschen. Dass dies Böse über den Menschen eine eigentümliche Macht besitzt, auch wenn sie – anti-manichäisch ̶ für ihn keine eigenständige Macht darstellt, das war Augustin nicht zuletzt aus biblischer Tradition klar geworden. Wie stellen wir heute also dar, was in traditionell biblischer Sprache mit dem Bösen, dem Diabolos, dem Teufel, ausgesagt wird? Das Böse ist auch für uns als selbständige Hypostase, also als 'reales Wesen' weder physisch noch metaphysisch denkbar; dies ist für mich gemäß gedanklicher Redlichkeit eindeutig klar. Andererseits ist es eindeutig zu wenig weil unterschätzend, es nur mit einem moralischen oder sonst wie bestimmten Defizit (z.B. an Gemeinschaftsfähigkeit, wie vom frühen Rawls vorgeschlagen wurde, a.a.O. S. 20f.) gleich zu setzen oder es als bloßes „Übel“ zu kennzeichnen. Es gibt einige neuere Versuche vor allem von theologischer Seite, das Denken des Bösen neu zu versuchen, wie Paul Ricoeur (Das Böse: eine Herausforderung für Philosophie und Theologie (Vortrag in Lausanne 1985), 2006) und der Sammelband von Werner H. Ritter (Okkulte Faszination. Symbole des Bösen und Perspektiven der Entzauberung. Theologische, religionssoziologische und religionspädagogische Annäherungen, 1997) zeigen. Zwischen Verharmlosung und Mystifizierung, zwischen Weginterpretieren und Hypostasieren bleibt vielleicht nur der Weg, „das Böse“ als Substantiv sprachlich zu behaupten, es aber semantisch offen zu lassen, was es denn eigentlich bedeutet. Diese zugegeben wenig befriedigende Lösung ist eigentlich keine, aber sie lässt die Rätselhaftigkeit des Bösen bestehen. Denn das Böse ist ein Rätsel für den Menschen, immer wieder und immer wieder neu, wenn man von zutiefst bösen Taten hört und liest, zu denen Menschen fähig sind. Dies hat Augustin zusammen mit den biblischen Autoren gewusst, er hat es aber sexistisch verschoben und so in die Lehre von der Erbsünde übersetzt. Wenn wir uns diesem Schritt heute zu Recht verweigern, bleibt die Frage als offene und unbeantwortete bestehen: Was ist das Böse?



    1. Rituale der Reinigung

Eng mit dem vorher gehenden Thema zusammen hängt die Frage, wie wir mit geschehenem Bösen, Frevel, Unrecht, dem, was in der Religion „Sünde“ genannt wird, umgehen. Zur-Rechenschaft-Ziehen und Bestrafung des Täters der bösen Tat ist nur der eine, wesentlich öffentliche, rechtlich befriedende Aspekt. Aber ein anderer Aspekt ist die Frage danach, wie Täter und Opfer selber mit der bösen Tat umgehen und leben können. wie sie religiös gesprochen den Zusammenhang von Sünde und Schuld auflösen können. Wir kennen dafür heute fast ausschließlich den Weg der psychischen Beratung und Betreuung, also der methodischen Bearbeitung und Bewältigung des aktiv oder passiv Erlebten durch eine fachlich-psychologische oder psychoanalytische Behandlung. (vgl. grundlegend Matthias Hirsch, Schuld und Schuldgefühl, 1998). Es ist aber ein erstaunliches Phänomen, wie in den letzten Jahrzehnten der Unfall-Seelsorger an Bedeutung gewonnen hat, um Betroffenen bei schrecklichen Erlebnissen beizustehen. Das liegt zum einen mit Sicherheit daran, dass es aus polizeilicher Sicht kaum eine kostengünstigere (die Pfarrer/innen werden von den Kirchen bezahlt) und praktikablere Lösung gibt: Pfarrer sind als Seelsorger an jedem größeren Ort leicht verfügbar. Aber ich sehe darin auch ein Anzeichen dafür, dass die Bedeutung des Seelsorgers als eines Menschen, der sich um die „Seelen“ der Betroffenen „sorgt“, also kümmert, wieder gewachsen ist. Vorsichtiger gesagt, vielleicht ahnt man in der Anforderung von Unfall-Seelsorgern, dass mit dem Seelsorger eine Instanz da ist und nicht verloren gehen sollte, die mit plötzlichem Schrecken und überfallartigem Bösem (Amokschützen) anders umzugehen gelernt hat als nur (im Sinne von ausschließlich) mit einer psychologischen Behandlung. Diese hat ihre große Berechtigung, ihren immer wieder erwiesenen Nutzen und ihren notwendigen Ort. Aber sie ist vielleicht nicht alles, was es im Umgang mit Schrecklichem und Bösen an Verhaltensweisen gibt. Religion bietet etwas an, was wir sonst nur noch säkularisiert kennen: Rituale. Möglicherweise sind Rituale sogar das einzig Wesentliche und sich durch alle Kulturen und Zeiten Durchhaltende in den Religionen. Gebet, Handauflegung, zeremonielle Salbungen und andere heilende symbolische Praktiken, die eingebunden und verantwortet sind in einem anerkannten Ritual, können durch wissenschaftlich-rationale Techniken nie ersetzt werden. Bei den sogenannten rites de passage , im christlichen Bereich also Taufe (Geburt), Konfirmation (Adoleszenz), Trauung (Heirat) und Bestattungsfeier (Tod), ist das leicht erkennbar. Manche dieser Rituale können zwar säkular beerbt werden, wie die andauernde Akzeptanz der Jugendweihe in den Bundesländern der ehemaligen DDR zeigt, aber dann haben diese 'weltlichen' Rituale selber religiösen Charakter angenommen. Für unser Thema, dem Nachgehen der Frage nach der Bedeutung dessen, was mit „Seele“ gemeint war und oft noch ist, verweisen Rituale auf eine Dimension des Menschlichen, die in ihrer subjektiv stabilisierenden, heilenden, lösenden, reinigenden Kraft unbezweifelbar sind und durch keine medizinische oder psychologische Behandlung ersetzt werden können. Sie betreffen tatsächlich nur die subjektive Seite, anders gesagt, sie hängen in ihrer Wirkung vom Glauben und Vertrauen der in den Ritualen handelnden Personen ab, - nichts „Wissenschaftliches“ also, höre ich sogleich als Einwand. Das ist richtig. Aber auch hier kann Augustin als ein Beispiel dienen, und zwar in der Weise, wie er durch seine Selbst-Betrachtung, durch die schriftliche Niederlegung seiner Bekenntnisse, seine eigene Vergangenheit „von der Seele“ bekam; er hat sie sich „von der Seele“ geschrieben – unabhängig von aller missionarisch-erbaulichen und sich selbst rechtfertigenden Absicht. Sich etwas von der „Seele“ reden können, um es auf diese Weise „los zu werden“, gehört ebenfalls zu den menschlichen Grunderfahrungen gelingenden Lebens. Dazu bedarf es nicht erst der Chaise-longue des Psychoanalytikers. Dies ist die ursprüngliche Bedeutung und urwüchsige Kraft der Beichte, solange sie nicht kirchlich banalisiert, kanalisiert und instrumentalisiert wird. Im Ritual von Beichte und Absolution, von Sündenbekenntnis und Vergebung der Schuld, konnte die Reinigung der Seele und Befreiung des Lebens zur Rückkehr in den Alltag symbolisch und personal erfahren werden. Im Wiedergewinnen eines neuen Begriffes der Seele, oder wie ich vorschlage, eines holistischen Anima-Begriffs, werden auch diese Elemente zu berücksichtigen sein. Es geht dabei um mehr als nur um die angemessene Übersetzung in säkulare Sprache, es vielmehr um das Aufklären des Zusammenhangs von Schuld – Sühne – Vergebung im Kontext heutigen 'nach-metaphysischen' Denkens. Die Potentiale religiöser Symbole für ein Verständnis des Menschen als wesentlich ganzheitliches, aber in sich 'ontologisch' mehrfältig strukturiertes Weltwesen („Perspektiven-Dualismus“; Komplementaritätsmodell) sind noch längst nicht ausgeschöpft. Dies zeigt die Schwierigkeit mit dem Begriff „Seele“ an, - dies könnte aber auch ein Wiedergewinnen seines sachlichen Gehalts aufklären helfen.



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Ich breche an einem Punkt ab, an dem es eigentlich erst richtig spannend wird, ginge es doch jetzt im Fortgang des Denkens im Grunde um die Entwicklung der Grundzüge einer philosophischen Anthropologie, die die physikalistischen Grundlagen einerseits und die differenzierte ontologische Struktur des Humanum andererseits anzuerkennen und ein ganzheitliches Bild vom Menschen zu begründen und zu entfalten hätte, - wahrlich ein weit gefasstes Thema und eine anspruchsvolle Aufgabe. Wir sehen aber auch schon an dem kleinen Teilausschnitt unseres knappen Gedankengangs, dass es letztendlich doch noch eine Menge zu sagen und zu denken, zu fragen und zu begründen gibt hinsichtlich dessen, was wir im Verlauf einer langen geistesgeschichtlichen Tradition „Seele“ zu nennen gelernt haben. Manches Alte ebenso wie manches Neue wird sich als wenig ergiebige Sackgasse entpuppen, anderes oftmals Überraschendes und Unterschätztes kann sich als verheißungsvoll erweisen, indem es uns in der Aufklärung über uns selbst weiter bringt. Sich um Geist und Seele insbesondere auf dem Hintergrund des neuzeitlichen Denkens und seiner Kategorien und Regeln begrifflich distinkt, methodisch sauber und sachlich plausibel zu bemühen, kann im derzeitig verunsicherten Zustand der Moderne eine Chance und ein Schritt zu einem Neuansatz des Denkens sein.





  1. Literaturverzeichnis

Quellen und Literatur, auf die verwiesen oder aus denen zitiert wird, in sachlicher Reihenfolge:

Platon, Sämtliche Werke in 4 Bänden, Reinbek 1994 (rororo enzyklopädie)

Hans Georg Gadamer, Wege zu Plato, Stuttgart 2001 (Reclam)

Platon in der abendländischen Geistesgeschichte, Hrsg. Theo Kobusch und Burkhard Mojsisch, Darmstadt 1997

Aristoteles, Über die Seele, Griechisch – Deutsch, Stuttgart 2011 (Reclam)

Aristoteles, Die Hauptwerke. Ein Lesebuch, Hrsg. Otfried Höffe, Tübingen 2009

Otfried Höffe, Aristoteles, München 32006

Augustinus, Confessiones Lateinisch – Deutsch, Hrsg., Übers., Komm. Burkhard Mojsisch und Kurt Flasch, Stuttgart 2009 (Reclam)

Kurt Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 32003

Jens Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004

Ansgar Beckermann, Das Leib-Seele-Problem, Eine Einführung in die Philosophie des Geistes, Paderborn 2008

Seele, Denken, Bewusstsein, Hrsg. Uwe Meixner und Albert Newen, Berlin 2003

Über die Seele, Hrsg. Katja Crone, Robert Schnepf, Jürgen Stolzenberg, Berlin 2010 (st)

Die Aktualität des Seelenbegriffs. Interdisziplinäre Zugänge, Hrsg. Georg Gasser und Josef Quitterer, Paderborn 2010

Mathias Hirsch, Schuld und Schuldgefühl. Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt, Göttingen 21998

Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt 2001

John Rawls, Über Sünde, Glaube und Religion, Berlin 2010





© CC BY-NC-ND Reinhart Gruhn, Kempten 2012

http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/



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